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MENSCHENFEIND Originaltitel: Seul contre tous Frankreich 1998 Regie und Buch: Gaspar Noé Länge: 89 Minuten Anbieter: Legend Films FSK. Keine Jugendfreigabe gemäß § 14 JuSchG Bild: 16:9 anamorph, 2.35:1 Ton: Deutsch Dolby Digital 5.1, Französisch Dolby Digital 2.0, dt. » amazon
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Ich könnte mir einen
Revolver besorgen
„Also, jetzt aber Ruhe!“ Hannah klatscht in die Hände, raue Hände, die zu viel Spülwasser und Männerhaare durchpflügt haben. Die Männerhaare würde sie aber nie zugeben. Alle anderen aber wissen davon. Sie schweigen und grinsen das Schweigen in sich hinein. Sind sie unter sich, dann darf es heraus. Mit lautem Gebrüll. Das nennt man Tierbändigerlogik.
„Was habt ihr von dem Film gehalten?“ Das ist Conny. Hat die Runde ins Leben gerufen. Sie treffen sich einmal im Monat, besprechen die Nachbarn, Bücher, Filme. Manchmal auch Theaterstücke.
„Ich weiß nicht“, murmelt Katrin. Trägt eine dicke Hornbrille, zu weite Röcke. Sie mag sich selbst nicht. Ist unsicher. Arbeitet als Sekretärin beim Finanzamt. Träumt von Sex in der Öffentlichkeit. „Das war doch ein abscheulicher Typ, dieser Schlachter. Schlägt das Kind im Mutterleib tot. Widerlich. Und dann zieht er los und hat nur noch Sex und Gewalt im Kopf.“
Alle nicken. Sie nicken oft und gerne.
„Aber warum bekommt ein solcher Film dann überhaupt gute Kritiken?“ Hannah spuckt die Worte in die Mitte. Niemand will sich bücken. Spucke ist ja auch widerlich. Passt zum Film.
„Gert. Du hast noch gar nichts gesagt.“
Ach ja, da ist ja auch noch Gert. Willkommene Abwechslung im Club der Hausfrauen. Definiert sich als Hausmann. Ist aber ebenso wie alle anderen deprimiert und sexuell frustriert. Seine Frau arbeitet zu lang, zu viel. Er vermutet, dass sie ein Verhältnis hat. Mit wem? Er kann es nicht sagen. Er hat sich in ein Whiskeyglas zurückgezogen. Gert fehlen die Worte. Er will sie auch nicht suchen. Dazu ist er zu müde.
Plötzlich legt Conny los: „Nun. Dann will ich uns allen den Film noch mal ins Gedächtnis rufen. Da ist also dieser arbeitslose Schlachter. Er hat diese keifende Frau kennen gelernt und wohnt nun mit ihr und ihrer Mutter in einer Sozialwohnung. Sie hat ihm wohl versprochen, er würde eine Metzgerei übernehmen können. Aber sie legt ihn rein. Ist schon ein echtes Miststück. Man mag sie gar nicht, das muss ich schon sagen. Der Schlachter ist sauer. Kann man ja auch verstehen. Ständig drängt sie ihn, er soll sich Arbeit suchen. Irgendwie macht er das ja auch. Er versucht es. Und dann kommt er in einem Altenheim als Nachtwächter unter. Da gibt es bessere Jobs. Das ist uns doch allen klar. Er hockt da rum. Da kann man schon wahnsinnig werden. In dieser einen Nacht dann stirbt eine von den Alten. Er ist dabei. Es macht ihm nichts aus. Anschließend bringt er die junge Nachtschwester nach Hause. Das arme Ding ist ganz fertig. Und wie das so ist. Er wird von einer Freundin seiner Frau gesehen. Die tratscht es natürlich weiter. Würden wir ja nie machen, was Mädels? Dich meine ich natürlich auch Gert. Also, wo war ich? Tratschen. Genau. Er kommt zu seiner schwangeren Geliebten oder Frau zurück, und es hagelt Vorwürfe. Und dann dreht er durch. Er schlägt sie windelweich. Tötet das ungeborene Kind.“ Conny unterbricht sich. Tut so, als ob sie würgen müsste. Die anderen würgen gleich mit. Auch Gert. Aber der muss wirklich würgen. Und dann senken sie ihre Köpfe. Macht sich einfach gut in einem solchen Moment. Und alle wissen es. Nur Gert nicht. Der würgt noch immer.
„Mach weiter“, gluckst Hannah.
Conny hebt dankend die flache Hand. „Mach ich.“ Sie zwinkert den anderen verschwörerisch zu. „Er muss sich also aus dem Staub machen. Paris. Er ist aus Paris gekommen und nach Paris muss er wieder. Macht er auch. Per Anhalter.“
„Du hast den Revolver vergessen“, knurrt es plötzlich zu ihrer Rechten. Gert blickt sie träge an und würgt dann wieder.
„Danke Gert, Darling. So seid ihr Männer halt. Den Revolver darf man nicht vergessen. Gut. Also noch mal in die Wohnung zurück. Er findet dort nämlich einen Revolver. Das Ding nimmt er mit nach Paris. Könnte es zur Not ja verkaufen. Männerlogik eben.“ Conny rümpft die Nase. „In Paris mietet er sich in eine Pension ein. Es ist das Zimmer, in dem seine Tochter gezeugt wurde. Die ist irgendwie behindert. Sie ist wohl in einem Heim untergebracht. Und dann zieht er los. Und alles ist untermalt von seiner Stimme.“
„Genau, die Stimme. Davon hast du noch gar nichts gesagt.“ Jetzt mischt sich Paula ein. Dürres Gerippe. Verfasst bereits ihren dritten unveröffentlichten Liebesroman. Titel hat sie noch keinen. Brütet Tag und Nacht darüber. Macht sie ganz fertig. Sie schläft kaum noch. Diesen Club mag sie auch nicht. Haben noch nie etwas von ihr besprochen. Französische Filme kotzen sie an. Sagt sie aber nicht. Könnte ja negativ auf sie zurück fallen. Fallen lässt sie sich nicht gerne. Sie lässt sich nur in ihren Romanen fallen. Und dann fällt sie meist in irgendwelche Betten.
„Danke Paula, für deinen Beitrag.“ Conny würde die Runde jetzt schon am liebsten auflösen. „Ja, wie soll ich sagen. Der ganze Film wird durch die Stimme des Schlachters kommentiert. Es ist so, als würden wir in seinem Kopf drin hängen.“
„Gefällt mir“. Gert hat sich kurz zurück gemeldet. Dann lässt er den Kopf lieber wieder hängen. In seinem Kopf hängt niemand.
„Das glaube ich dir glatt.“ Conny sieht ihn vorwurfsvoll an. „Wobei... Das hatte schon was. Man hing völlig in ihm drin. Man hing an ihm dran. Irgendwie war es fast zu eng in ihm drin. Ich weiß nicht, ob mir das wirklich so gefallen hat. Und dann diese Kamerafahrten, eine Art Zupacken mit der Kamera, nein, es war wie ein Schuss mit der Kamera, ein Klatschen.“
„Die hatten doch nur Angst, dass zu viele Zuschauer einschlafen.“
„Danke für deinen Redebeitrag, Hannah. Aber wenn ich ehrlich bin, dann muß ich euch sagen, dass ich den Film gut fand. Er war was Besonderes.“
Gemurmel flutet das Wohnzimmer in Sekunden. Hat sie das wirklich gesagt. Das kann doch nicht sein. Aber doch nicht Conny. Alle starren sich an. Starren Conny an.
Dann starren sie Gert an. Der will das nicht, greift nach seiner Jacke und verabschiedet sich. Bloß raus hier, denkt er noch. Dann hat er es geschafft.
Zurück bleiben: verblüffte Frauen. Was soll man denn jetzt mit Conny machen. Ausstoßen? Das wäre das mindeste. Sie fand den Film gut.
„Du würdest ihn also tatsächlich anderen empfehlen?“
„Klar würde ich das.“ Conny hat langsam Spaß an ihrer Rolle. Sie sollte sich zukünftig blasser schminken. Das stände ihr gut. Sie könnte mit Zigaretten spielen. Sie sollte nach Paris ziehen. Filme drehen. Wie dieser Gaspar Noé. Vielleicht übertreibt sie jetzt auch ein bisschen.
„Was ist denn nur los mit dir?“ Ihre Freundinnen blicken sie ratlos an. Die kann sich doch nicht so schnell geändert haben. Die spielt nur. Das wäre doch gelacht.
„Nein, ganz ehrlich. Der Film ist ein Angriff. Er provoziert uns. Und das gefällt mir. Seht euch doch noch diese Scheiße an, die wir uns ständig im Fernsehen oder Kino rein ziehen. Das ist alles Müll. Müll, der uns beruhigen soll. Aber dieser Film regt auf, regt an, lässt einen nicht in Ruhe. Er belebt uns.“ Siegestrunken strahlt Conny in die Runde. Die Runde strahlt nicht. Offene Münder zeigen Dunkelheit. Da ist nichts. Nur ein paar Zahnreihen.
„Conny. Hör jetzt auf. Wir müssen sonst was unternehmen. Wir holen einen Priester oder gleich einen Exorzisten. Wir bekommen ja richtig Angst vor dir. Schmink dich, und ziehen wir um die Häuser.“
Conny kann gar nicht genau ausmachen, wer jetzt zu ihr gesprochen hat. Keifende Mistweiber, denkt sie, um dann zu denken, dass sie so etwas doch sonst nie denkt. Miststücke. Da war es schon wieder. Vielleicht ist sie wirklich besessen. Das könnte dieser Schlachter sein. Sie schüttelt den Kopf. Komm wieder zu dir, denkt sie.
Schüttelt wieder den Kopf. Wasser bekommt man doch so auch aus den Ohren. Aber vielleicht manche Filme nicht aus den Augen.
„Ich glaube, ihr müsst jetzt leider gehen.“ Conny kann kaum glauben, dass sie das jetzt gesagt hat. Hat sie aber. Wenn sie weg sind, wird sie sich den Film noch mal ansehen, wird versuchen, heraus zu finden, was da mit ihr passiert ist.
Als die anderen dann endlich weg sind, fühlt sie sich besser. Sie legt den Film ein, denkt über ihr Leben nach und was sie daran ändern könnte.
Ich könnte mir einen Revolver besorgen, denkt sie. Oder eine Kamera. Mal sehen...