Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




12. August 2009
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Hunger (R: Steve McQueen)
Hunger (R: Steve McQueen)
Hunger (R: Steve McQueen)
Fotos © Blast! Films
Hunger Ltd. 2008
All Rights Reserved
Hunger (R: Steve McQueen)
Hunger (R: Steve McQueen)
Hunger (R: Steve McQueen)
Hunger (R: Steve McQueen)


Hunger
(R: Steve McQueen)

UK / Irland 2008, Buch: Steve McQueen, Enda Walsh, Kamera: Sean Bobbitt, Schnitt: Joe Walker, Musik: Leo Abrahams, David Holmes, mit Michael Fassbender (Bobby Sands), Liam Cunningham (Pater Dominic Moran), Stuart Graham (Raymond Lohan), Brian Milligan (Davey Gillen), Liam McMahon (Gerry Campbell), Laine Megaw (Raymonds Frau), Lalor Roddy (Stephen Graves), Helen Madden (Mrs. Sands), Des McAleer (Mr. Sands), Karen Hassan (Gerrys Freundin), Helena Bereen (Raymonds Mutter), B. J. Hogg (Loyalistischer Krankenpfleger), Ciaran Flynn (Bobby mit 12), 96 Min., Kinostart: 13. August 2009

Bei einem Film über hungerstreikende IRA-Häftlinge baut sich beim Publikum schnell eine gewisse Erwartungshaltung auf. Doch Hunger, der vielfach preisgekrönte Debütfilm des britischen Ausnahmekünstlers Steve McQueen, bietet nicht nur wuchtige, gewaltvolle Bilder vom menschlichen Leiden, sondern baut ein inszenatorisch packendes Kaleidoskop der Geschehen im Umfeld auf. Statt einer vorgekauten Geschichtslektion oder einer akribisch nacherzählten Chronologie bietet der Film Einblicke aus diversen Perspektiven, die selbst ohne Vorwissen ein von allen Seiten durchleuchtetes Gesamtbild ergeben.

McQueen wollte keinen Film über "Märtyrer", "Helden", "Täter" oder "Opfer" drehen, sondern einen Film über Menschen, und so nimmt sich Hunger nicht nur der Geschichte von Bobby Sands, des berühmten Anführers des Hungerstreiks an, sondern schildert nacheinander ganz unterschiedliche Personen, wie zum Beispiel die folgenden:

Der Gefängniswärter Raymond Lohan (Stuart Graham) frühstück mit seiner Frau, übt dann seinen Job aus (er wird bei "Befragungen" eingesetzt). In der Mittagspause sitzt er allein und wischt sich akribisch Krümel von der Hose, ehe er die Alufolie, in der seine Frau seine Mahlzeit eingepackt hatte, adrett zusammenfaltet.

Der neue Häftling Davey Gillen (Brian Milligan), der von seinem erfahreneren Zellengenossen (Liam McMahon) in die Praktiken der Protestaktionen eingeführt wird, wobei sich die zunächst mysteriösen Bezeichnungen "blanket" und "no wash" schnell für den Zuschauer erschließen.

Pater Dominic Moran (Liam Cunnigham) will an Sands (Michael Fassbender) Gewissen appellieren, um den zweiten Streik, der in mehreren Freitoden enden wird (Sands: "What you call suicide, I call murder."), abzuwenden.

Ein junger Polizist wird Zeuge der unmenschlichen Behandlung der Gefangenen und droht, zwischen die Fronten zu geraten.

Soweit eine halbwegs konventionelle Inhalts­zusammen­fassung eines Films, den man keineswegs auf seine Handlung reduzieren kann. McQueen mag nicht die Routine eines Regie-Altmeisters besitzen, aber er hat ein verblüffendes Gespür für Details, Atmosphären und eine innovative Art und Weise, einen Film aufzubauen. Hunger begleitet einige seiner Protagonisten für nur kurze Zeit, mit Bobby Sands geht der Film bis zum Schluss. Und der Film nimmt ganz unterschiedliche Positionen ein, überlässt die Bewertung der Aktionen aber schließlich dem Betrachter, der nach dem Film einen großes Diskussionsbedarf haben wird. Doch Hunger ist nicht nur ein Politikum, sondern vor allem ein filmisches Meisterwerk. Selten hat ein Film einen so ergriffen. Wo Michael Bay ein explosives Spektakel auffahren würde, lässt McQueen seinen Wärter beim morgendlichen Aufbruch von Zuhause nach auffällig leerer Straße lieber noch ein zweites Mal unter sein Auto schauen - und der Effekt ist durch die Alltäglichkeit des Terrors umso prägender.

McQueen zeigt Schneeflocken auf blutenden Knöchel, Stubenfliegen, die wie Haustiere liebkost werden, Reflexionen in von Urin überschwemmten Gefängnisfluren. Er macht das Gefängnis erfahrbar, man riecht, fühlt und schmeckt es quasi. Und wie seine Hauptfigur Bobby Sands zeigt auch McQueen - auf inszenatorischer Ebene - einen Stilwillen bis zur Selbstzerstörung. Nicht seine Figuren, aber der Film selbst wirkt wie Märtyrer. Wie McQueen mit Unschärfen arbeitet - dagegen wirkt selbst Julian Schnabel harmlos. Das härteste Bild vom Hungerstreik ist nicht automatisch der abgemagerte Fassbender, der wie aus einer Zeichnung von Egon Schiele wirkt, sondern eine unauffällige Überblendung von einem unangetasteten schmackhaften Mahl zum nächsten. Gerade in der Raffung der Zeit wird die Dauer greifbar.

Der Höhepunkt des Films ist sicher das Gespräch zwischen Sands und Pater Moran, wobei ich über die Entwicklung gar nicht viel sagen will. Aber in einer einzigen, ca. 17minütigen Einstellung zeigt McQueen hier zusammen mit seinen Darstellern, wozu das Medium Film fähig ist. Wo andere Regisseure Stanley Kubrick nur nacheifern, führt McQueen Kubricks Verständnis für das Medium noch weiter, baut auf ihm und anderen auf. Als Zuschauer ist man im positiven Sinne "gefangen", man "hungert" nach mehr, ja, trotz der oft extremen Bilder will man den Film am liebsten gleich noch mal sehen um auf alles zu achten, auf die Vogelschwärme, die Rückblenden zu Bobbys Jugend, den Lichteinsatz, den Schnitt, die Kamera, die erschreckend nüchternen Bilder und den dennoch sich übermittelnden Lebenswillen. Von dieser Art Filmen kommen in einem Jahrzehnt ca. drei in die Kinos, und auch, wenn die geringe Kopienzahl es schwierig machen wird, sollte man diesen Film unbedingt im Kino sehen ...