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28. April 2010
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Sin Nombre (R: Cary Joji Fukunaga)
Sin Nombre (R: Cary Joji Fukunaga)
Fotos © 2010 PROKINO Filmverleih GmbH
Sin Nombre (R: Cary Joji Fukunaga)
Sin Nombre (R: Cary Joji Fukunaga)
Sin Nombre (R: Cary Joji Fukunaga)


Sin Nombre
(R: Cary Joji Fukunaga)

Mexiko / USA 2008, Buch: Cary Joji Fukunaga, Kamera: Adriano Goldman, Schnitt: Luis Carballar, Craig McKay, Musik: Marcelo Zarvos, mit Edgar Flores (El Casper / Willy), Paulina Gaitan (Sayra), Kristyan Ferrer (El Smiley), Tenoch Huerta Mejía (Lil’ Mago), Diana García (Martha Marlene), Luis Fernando Pena (El Sol), 96 Min., Kinostart: 29. April 2010

Das mexikanische und brasilianische Kino haben sich im letzten Jahrzehnt mithilfe einiger stilprägender Regisseure auf dem Weltmarkt eine Nische erkämpfen können, auch wenn die Talente (z. B. Alfonso Cuarón oder Guillermo del Toro) sich allesamt in Richtung Hollywood wegbewegt haben. Insbesondere Fernando Meirelles (Cidade de Deus) und Alejandro González Inárritu (Amores Perros) prägten mit ihren Debütfilmen einen Trend, was Sujet (Kriminalität in den Ghettos der Metropolen), Stil (möglichst bunt, schnelle Schnitte, Freeze-Frames) und narrative Struktur (möglichst verwegen) angeht, und Filme wie Tropa de Elite führen uns vor Augen, was so ein Trend anrichten kann, wenn gesteigerte Brutalität und inszenatorische Kinkerlitzchen sich immer stärker in den Vordergrund drängen, während die Geschichte und die Figurenentwicklung dafür auf der Strecke bleiben.

Cary Joji Fukunaga ist, wie sein Name schon andeutet, kein Mexikaner, sondern der Sohn eines Japaners und einer Schwedin (!), der in Santa Cruz studierte und nach diversen Stipendien, Kurzfilmen und Arbeiten als Kameramann, Regisseur und Drehbuchautor nun sein Spielfilmdebüt vorlegt, dem man die US-amerikanische Beteiligung kaum anmerkt. Sin Nombre, der in Sundance für die Regie und Kamera ausgezeichnet wurde, setzt sich aber trotz einer ähnlichen, und nicht eben zimperlichen Handlung positiv vom Trend ab, denn die Geschichte wird streng chronologisch und mit einer erfreulichen Zurückhaltung in der Zurschaustellung filmischer Mittel erzählt. Sin Nombre stellt die Form wieder in den Dienst des Inhaltes. Und nicht umgekehrt.

Sin Nombre erzählt mindestens drei Geschichten bzw. drei Schicksale, die miteinander verwoben sind. Willy alias “El Casper” (Edgar Flores) will einerseits Karriere bei den Mara (“der gefährlichsten Gang der Welt”) machen, andererseits hat er eine Freundin, die er liebt, und die er von seiner gewalttätigen Seite fernhalten will. (Diese Situartion spiegelt sich in gewisser Weise auch beim übers ganze Gesicht tätowierten Bandenchef, der gegenüber seinem Nachwuchs ganz liebevoller und zärtlicher Vater ist, in der Gang - und anderswo - aber eine ganz andere Seite zeigt.)

Der kleine Benito (Kristyan Ferrer) will auch ein Mara werden, doch er muss sich noch beweisen. Wenn er als Initiationsritus 13 Sekunden lang von allen Gangmitgliedern geschlagen und getreten wird, kommt er blutend, aber glücklich lächelnd wieder zum Vorschein und verdient sich den Namen “El Smiley”.

Sayra (Paulina Gaitan) lebt in Honduras, doch ihr Vater, den sie jahrelang nicht gesehen hat, will sie wie andere Familienmitglieder zuvor über Mexiko in die USA, nach New Jersey schleusen, wo ein besseres Leben auf sie wartet.

Vielleicht mit der Ausnahme von Martha Marlene (Caspers Freundin) und der Großmutter von “El Smiley” wollen alle Figuren in diesem Film ein besseres leben und sind dafür bereit, kriminell zu werden (wobei illegales Einwanderen und organisiertes Verbrechen natürlich nicht gleich zu bewerten sind). Dennoch identifiziert man sich mit ihnen, was schon mal ein Punkt ist, den Tropa de Elite nie erreichte. Auch wenn bestimmte Punkte in der Handlung vorhersehbar sind, und einige überraschende Gewaltausbrüche oder “Unfälle” stets im Dienst des Drehbuchs stehen, nimmt die Geschichte den Zuschauer mit auf eine Reise, sowohl rein geographisch als auch was die Figurenentwicklung angeht. Und dies macht der Film sehr gut.

Die zarte Liebesgeschichte, die sich während des Films zwischen sayra und Willy entwickelt, hat ungefähr so gute Chancen wie die zwischen Romeo und Julia oder ein Schneeball in der Hölle. Aber gerade, weil es eine etwas andere Liebe ist (Zayra ist vor allem dankbar, Willy trauert noch seiner Martha hinterher), zieht sie die Anteilnahme des Zuschauers auf sich. Die Regie hält sich zurück, und auch das Schauspiel ist sehr subtil, zurückhaltend, wo andere südamerikanische Regisseure alle Register aufgezogen hätten.

Auf dem deutschen Plakat heißt es “Ein packender Thriller, ein Gangster-Movie und zugleich eine berührende Lovestory”. Klingt extrem bescheuert, aber es stimmt, und trotz einiger Gewaltdarstellungen könnte Sin Nombre sogar als Date-Movie durchgehen.