Deutschland 2010, Buch: Carolin Schmitz, Kamera: Olaf Hirschberg, Schnitt: Stefan Oliveira, mit den Stimmen von Frau J., Frau K., Frau D., Herrn S., Herrn K. und Herrn M., 78 Min., Kinostart (Regionalstart Berlin): 29. September 2011
Portraits deutscher Alkoholiker (im folgenden als PdA abgekürzt) paart die Aussagen von je drei Frauen und Männern mit einem Bilderfluss, der ein häufig menschenleeres, sehr adrettes und tadellos funktionierendes Deutschland zeigt.
Schon die erste Einstellung des Films (noch vor dem Titel und der Stimme des ersten Suchtkranken und seiner Erfahrungen) verdeutlicht eigentlich ganz klar die Aussage des Films, der Divergenz zwischen Wort und Bild. Man sieht vielleicht 40 bis 50 Quadratmeter eines Speisesaals. Kleine runde Tische aus einladend hellem Holz, umgeben von ordentlich drapierten Stühlen, jeweils in der Mitte des Tisches ein kleiner Aufsteller, der wahrscheinlich als Speisekarte fungiert. An der Rückwand des Raumes mittig ein weißes Reliefbild, das hinter- und nebeneinander die weißen Profile zweier Männer zeigt, die sich wahrscheinlich zu den »Dichtern und Denkern« unseres Volkes zählen würden (ich habe sie nicht erkannt, vielleicht waren es die Grimms oder die Humboldts, ihre Identität ist aber nicht so wichtig wie ihre Funktion in diesem Tableau). Schließlich, links und rechts von dem Doppelportrait, zwei schwere dunkelgrüne Vorhänge, die sich dann auch öffnen, und zwei spektakuläre, aufeinander abgestimmte Zimmerspringbrunnen preisgeben, die ordentlich »Action« in das dennoch spießige Ambiente bringen. Nicht nur aufgrund des dunklen Vorhangstoffs, hinter dem sich schließlich feuchtfröhliche Aktivität zeigt, die zuvor verborgen blieb, erinnert mich PdA an vielen Stellen an David Lynchs Blue Velvet, wo eine masochistische Nachtclubtänzerin, Mord und Korruption, ein abgeschnittenes Ohr oder garstige Käfer zu den Dingen gehören, die im all-american Vorzeigeort Lumberton lange Zeit verborgen bleiben, diesen aber rückblickend stärker prägen als die sicherlich preisgekrönten Blumenbeete vor dem blütenweißen Lattenzaun und strahlendblauem Himmel. Am Rande geht es in Blue Velvet übrigens auch um die Vorzüge der Biersorten Heineken und Pabst Blue Ribbon, und zwei der ersten Sätze, die Dennis Hopper als Frank Booth von sich gibt, sind »Jetzt ist es dunkel« und »Wo ist mein Bourbon?«
Das »Verborgene«, das heimliche Trinken spielt in PdA immer wieder eine Rolle. Verstecke im Keller oder hinter Aktenordnern, »echtes« Bier, das aus Clausthaler-Flaschen getrunken wird. Gerade bei den Frauen wird viel Energie darauf angewendet, den Gatten (neben den Kindern jeweils Teil der Biographie) nicht herausfinden zu lassen, dass man wieder trinkt. Und die befragten Herren müssen insbesondere am Arbeitsplatz ihren Alkoholkonsum verbergen, wobei sie von Sekretärinnen und Mitarbeitern sogar unterstützt werden. Die Geschlechterrollen in PdA erinnern so stark an einfachere, harmlosere Zeiten wie auch die Innenansichten deutscher Wohnungen (übrigens jeweils zu sehen, wenn gerade eine Frau spricht), die man eher in den 1970ern verorten würde als im neuen Millennium (abgesehen von einigen modernen Küchengeräten und einer eher klinischen Atmosphäre ohne die damals allgegenwärtigen Farbtupfer der Pril-Blumen-Sticker). Doch dies ist sicher Absicht, die Bilder von vermeintlichen Arbeitstellen konzentrieren sich hingegen eher auf automatisierte Vorgänge wie ein Arzneimittel sortierender Roboter oder eine Maschine, die Waren in Klarsichtfolie einwickelt, eine heute oft verwendete Methode zur Stabilisierung, die noch vor zwei Jahrzehnten fast unbekannt war.
PdA lädt ein zur freien Assoziation, bewahrt sich dabei aber eine unübersehbare Suggestivkraft.
Zum Abschluss noch ein weiteres meiner Lieblingsbilder, das für viele andere stehen muss. Ein Bahnsteig (der mich persönlich an Potsdam erinnert, sich aber wahrscheinlich woanders befindet). Wir sehen den Bahnsteig im Profil, eine Frau geht ihn gemeinsam mit einem vielleicht sechsjährigen Kind entlang (nach rechts). Plötzlich und ohne Warnung rauscht ein ICE durch den Bahnhof, die Montage löst die Szene so auf, dass wir Mutter und Kind nicht wiedersehen. Mögliche Interpretation: »Es kann Dich jederzeit erwischen.« Später im Film sieht man den selben Bahnsteig noch mal, diesmal steht ein Zug. Die Kamera bewegt sich etwas, da sieht man das »BordBistro«. Durch den Kontext erhält hier (nahezu) jedes Bild eine zusätzliche Bedeutung, selbst im Reiseverkehr darf die Flüssigverköstigung nicht fehlen. Deutschland, ein Volk der Dichter und Denker. Und Trinker.
Abgesehen von zwei Filmen von Nicolas Philibert der beste Dokumentarfilm, den ich bisher in diesem Jahrtausend sah. Und ein Film, der einerseits zur ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Film einlädt, der in mir aber auch den Wunsch entstehen lässt, der Regisseurin viele Fragen zu stellen.