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5. Oktober 2011
Andreas Jacke
für satt.org


  Melancholia (Lars von Trier)
Melancholia (Lars von Trier)
Bildmaterial © 2011 Concorde Filmverleih
Melancholia (Lars von Trier)
Melancholia (Lars von Trier)
Melancholia (Lars von Trier)


Melancholia
(Lars von Trier)

Dänemark / Schweden / Frankreich / Deutschland 2011, Buch: Lars von Trier, Kamera: Manuel Alberto Claro, Schnitt: Morten Højbjerg, Molly M. Stensgaard, mit Kirsten Dunst (Justine), Charlotte Gainsbourg (Claire), Kiefer Sutherland (John), Charlotte Rampling (Gaby), John Hurt (Dexter), Alexander Skarsgård (Michael), Stellan Skarsgård (Jack), Brady Corbet (Tim), Udo Kier (Wedding planner), Jesper Christensen (Little Father), James Cagnard (Michael's Father), Deborah Fronko (Michael's mother), Stefan Cronwall (Bröllopsgäst), Cameron Spurr (Leo), 136 Min., Kinostart: 6. Oktober 2011

Lars von Trier lässt die Welt wirklich untergehen

»No Apocalypse, not now« hieß ein Vortrag, den Jacques Derrida 1985 in den USA gehalten hat. Dort wurde noch über den Gedanken einer nuklearen Vernichtung spekuliert. Nunmehr, wo nicht mehr die nukleare Katastrophe, sondern die öko-Logische Katastrophe droht, kann man alle Überlegungen zum Kalten Krieg erstmal vergessen. Es ist nicht der politische Kampf des einen Staates gegen den anderen, es ist die Natur, die uns alle verschlingen wird. Mit anderen Worten: es ist nicht das ödipale Duell, es ist eine paranoide Struktur, die das Ausgestoßene in sich zurücknehmen könnte, die uns unterdessen bei Weitem gefährlicher erscheint.

Bei Lars von Trier findet der Weltuntergang, den Tristan und Isolde in Wagners Oper psychisch erleben, deshalb nun in der Form statt, dass ein großer Mutterplanet mit Namen Melancholia die Erde tatsächlich verschluckt. Und diese Konstellation ist nicht nur physisch, sondern zugleich auch psychisch spürbar. Claire und ihre Schwester Justine leiden unter einer schwierigen Mutter, die es ihren Töchtern nicht gerade einfach gemacht hat, den Weg ins Leben zu finden. Der Planet Melancholia ist das überdimensionale Symbol dieser Mutter am traurigen Horizont des Melancholikers.

Der Film ist fatalistisch und in Bezug auf das, was eine Depression auslöst, dennoch geradezu vorbildlich. Die Mischung aus planetarischen Konstellationen und Gefühlswelten in Bezug auf die Trauer faszinierte bereits Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch. Er fand heraus, dass das Mittelalter die Trägheit des Herzens im Zeichen des Planeten Saturn gesehen hatte. Es ist der narzisstische Größenwahn des Ichs, der die Melancholie mit dem Weltraum verbindet. Die Anleihen an Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey sind in Triers neuem Meisterwerk ebenso schwer zu übersehen. Auch wenn Kubrick das All nicht so negativ gesehen hat. Dem Regisseur gelingt dann vor allem in zweiten Teil eine Art Kammerspiel, in dem der Weltuntergang psychisch wie physisch weit glaubwürdiger dargestellt wird als in allen Filmen von Roland Emmerich zusammen. Es bedarf nicht der großen Actionketten, der gigantischen Eindrücke vom Zerbersten der Erde, es reicht, das Schicksal von vier Menschen zu zeigen. Es reicht, ihre unterschiedlichen Positionen zu zeigen. Es gibt die ängstliche Claire (Charlotte Gainsbourg), die vor Panik nicht mehr weiß, wohin. Es gibt ihre Schwester Justine (Kirsten Dunst), die dem Szenario gelassen – ja, sogar hoffnungsvoll entgegen sehen kann. Es bestätigt nur dass, was sie ohnehin wie ihre Mutter fühlt: Die Welt ist schlecht, warum soll sie also nicht untergehen? Und es gibt den Claires Mann John (Kiefer Sutherland), der nicht daran glauben kann, dass die Katastrophe wirklich stattfinden wird. Er hält fest an einem guten Objekt. Seine Haltung ist die, mit der wir jeden Tag an die Arbeit gehen. Und es gibt das Kind, das den Tod noch nicht so richtig verstanden hat. Melancholia ist der eindrucksvollste Film, den ich bisher über den Weltuntergang gesehen habe. Wagners Ouvertüre von Tristan und Isolde verbindet eine große romantische Untergangsfantasie aus Liebe so eng mit diesem Szenario, dass darin das Schlimmste, was uns passieren kann, etwas Schönes bekommt. Vielleicht ist genau das das wirklich Entsetzliche an diesem Film.