Originaltitel: Carnage, Frankreich / Deutschland / Polen 2011, Buch: Yasmina Reza, Roman Polanski, Lit. Vorlage: Yasmina Reza, Kamera: Pawel Edelman, Schnitt: Hervé de Luze, Musik: Alexandre Desplat, mit Kate Winslet (Nancy), Jodie Foster (Penelope), Christoph Waltz (Alan), John C. Reilly (Michael), 79 Min., Kinostart: 24. November 2011
Kammerspielartige Filme waren mal Roman Polanskis Spezialität. Sein erster Langfilm, Noz w wodzie (Das Messer im Wasser) kaschierte dies etwas, weil er auf einem Boot spielte, aber auch Repulsion, Cul-de-sac, Rosemary’s Baby, Le locataire oder Death and the Maiden lassen wenige Menschen auf kleinstem Raum aufeinanderknallen, wenn auch mit fataleren Folgen als in Carnage.
Was Carnage auszeichnet, ist sein leichter, spielerischer Ton, etwas, was man von Polanski vielleicht gar nicht mehr erwartet hätte. Ein Theaterstück, das ihm am Herzen lag, wurde mit einigen oscarprämierten Darstellern umgesetzt (dass John C. Reilly oscartechnisch nicht in das Quartett passt, findet seine Entsprechung im Film), die Wohnung, in der es spielt, wurde bis auf kurze Szenen im Hausflur und den Vor- bzw. Nachspann nicht verlassen, und obwohl die Story keine großartigen Entwicklungen durchmacht (die Konstellation und der Titel nehmen vieles vorweg), bereitet es einen animalischen Spaß, diesem Seelenstriptease irgendwo zwischen Who’s afraid of Virginia Woolf? und Funny Games zuzuschauen.
Der zutiefst lernresistente deutsche Verleih Constantin zeigte natürlich die Synchro, die einen entscheidenden Vorteil hat: Christoph Waltz sychronisierte sich selbst und zelebriert dabei sein schweinisches Glucksen, das aus anderem Munde wahrscheinlich deplaziert gewirkt hätte. Doch einen Film, der als eine der frühesten Vorspanninfos zeigt, wer für die »Übersetzung des Originaldrehbuchs ins Englische« zuständig war, und der dann in der ersten Sequenz, in der es um linguistische Details bei einem Schreiben an die Haftpflichtversicherung geht, einen »verbal dispute« mit einer »lautstarken Auseinandersetzung« übersetzt (nichts, aber wirklich nichts an »verbal dispute« sagt etwas über die Lautstärke aus), den sollte man definitiv im Original schauen, wo Jodie Foster vermutlich ein Spur weniger quietschig wirkt und John C. Reilly nicht wie ein (verbal gesehen) tapsender Teddybär.
Aber zurück zu einem Element des Films, bei dem die Übertragung der Tonspur wenig sabotieren konnte, denn es handelt sich um ein rein visuelles Detail, das mich an Polanskis nach wie vor besten Film Repulsion erinnerte: In der Wohnung des Ehepaares, dessen Sohn verletzt wurde, stehen neben einigen teuren Kunstkatalogen auch ein gutes Dutzend Tulpen, fein drapiert in einer durchsichtigen Vase. Zwischendurch gibt es mal eine wunderschöne Bildkadrierung, die über diese Tulpen hinweg auf die Darsteller blickt. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, das Polanski dafür überlebensgroße gefälschte Tulpen benutzt hat. Und diese subtilen Spielereien mit der Sinneswahrnehmung des Zuschauers, wie sie bei Großmeistern wie Murnau oder Hitchcock fast Standard waren, und die auch Polanski noch wie die leuchtende Milch aus Cary Grants Glas aufgesogen hat, die haben in einem Kino, wo man jedes Detail nachträglich am Rechner farbkorrigieren und retuchieren kann, vermutlich nichts mehr zu suchen. Und umso mehr freut man sich, wenn sie dann doch mal auftauchen. Carnage ist ein Film, wie er auch vor dreißig Jahren so hätte entstehen können (wenn wir mal das Handy und die Political Correctness außer acht lassen), aber vor allem ist Carnage ein Film, wie man ihn heutzutage viel zu selten sieht. Und deshalb sollte man solche Filme unterstützen, solche Filmemacher und solche Darsteller. Und dafür vielleicht mal auf irgendein 3D-Spektakel oder ein Sequel 5c verzichten.