Deutschland 2011, Buch: Aysun Bademsoy, Kamera: Nikola Wyrwich, Schnitt: Clemens Seiz, 87 Min., Berlinstart: 31. Mai 2012 (fsk am Oranienplatz, am 1. Juni übrigens mit der Regisseurin als Gast)
Ehre. Es gibt nur wenige Filme mit so einem kurzen Titel. Und kaum einer davon hat einen Titel, der so wie hier Programm ist.
Bei Dokumentarfilmen bin ich wählerisch. Ehre ist ein Film, der sich darin versucht, der Erörterung einer Frage näherzukommen (»Was ist Ehre?«). Das ist schon mal ein ehrenwertes Anliegen. Außerdem weiß der Film, das Medium Film zu nutzen. Das ehrt ihn.
Angefangen mit der Klammer, die eine feierliche Gelöbnisveranstaltung der Bundeswehr zeigt (»Soldatenehre«), konfrontiert Regisseurin Aysun Bademsoy unter anderem Jugendliche mit dem Begriff der Ehre - beim Versuch einer Definition kommen sie ganz schön ins Schwimmen. Dies ist aber ausnahmsweise kein Anzeichen der fortschreitenden Volksverdummung, sondern zeigt, wie komplex der Begriff ist. Dies lässt sich auch sehr schön durch einen Besuch der Wikipedia-Seite zum Begriff »Ehre« demonstrieren (wir verlassen jetzt kurzzeitig den Film und seine Besprechung).
Diese Seite ist ähnlich spannend wie der Film (aber auf eine ganz andere Art), denn nicht nur ist Wikipedia offenbar damit überfordert, »Belegstellen« für eine Definition zu finden, und man erklärt »Ehre« reichlich holprig über das »Gegenteil« »Schande« - sehr schnell wird das Ganze fragwürdig, denn einige der Unterkapitel laden den Begriff im Kontext ebenso negativ auf wie die gesellschaftlichen Gruppen, innerhalb derer der Begriff hier bevorzugt verortet wird: »Ehre im Nationalsozialismus«, »Ehre in der islamischen Familie«, »Ehre in der Türkei«. Solche Seiten sind es, die einen die gewünschte Aufnahme Wikipedias ins »Weltkulturerbe« mehrfach überdenken lassen. Man stelle sich vor, Begriffe wie »Demut« oder »Bescheidenheit« würden ebenfalls in solch einem entstellenden Zusammenhang »erklärt« werden. »Demut unter Kampfhunden«, »Bescheidenheit im Showbusiness« etc.
Und erschwerend kommt hinzu, dass es natürlich eine unfassbare Frechheit ist, den Nationalsozialismus, die islamische Familie und die Türkei durch diese Negativ-Erklärungen implizit miteinander in Bezug zu setzen. Das ist ähnlich wie der Satz »Dieter Bohlen versteht genau so viel von Bescheidenheit wie Til Schweiger und James Cameron.« (Und das waren jetzt noch glimpfliche Beispiele, weil keine überführten Massenmörder darunter waren.)
Zurück zum Film. In der Tat geht es auch hier (nicht ausschließlich, aber mit einem unübersehbaren Schwerpunkt) um den Ehrbegriff im islamischen Kontext, und die Regisseurin, deren Migrationshintergrund anhand ihres Namens augenscheinlich ist, hat gleich zwei »Ehrenmorde« (wenn auch nicht die Taten, so doch die Umstände) miterleben müssen - einer beendete gar ein begonnenes Filmprojekt.
Der Frust und die Hilflosigkeit wird unter anderem durch einen einfachen, aber sehr wirksamen 360-Grad-Schwenk visualisiert, den der Film mehrfach an Orten solcher Ehrenmorde vornimmt (ohne hierbei immer auf die Zusammenhänge einzugehen). Durchs Auge der Kamera bewegt sich auch der Zuschauer im Kinosessel quasi im Kreis und kann nicht entkommen. Er wirft einen Blick auf eine harmlos erscheinende Nachbarschaft, doch dieser Blick könnte dem letzten Blick des Opfers entsprechen, und hinter diesen Mauern versteckten sich irgendwo die Täter.
Die didaktischen Ansätze des Films sind lobenswert, auch wenn schon die aufgezeichneten Gespräche mit Jugendlichen klarmachen, wie bestimmte Problemstellungen - selbst bei direkter Konfrontation wie im Interview oder bei einem Anti-Gewalt-Training - bevorzugt durch Abwehrmechanismen kompensiert werden. Das Gespräch oder das Thema werden ins Lächerliche gezogen. Sogar bei der Pressevorführung gab es zwei junge Erwachsene im Kinosaal, die zwar von einigen Szenen auch geschockt waren, aber sich immer wieder schnell hinter Witzeleien versteckten. Womöglich waren sie bei den Dreharbeiten in Reineckendorf involviert, da sie im Gegensatz zu mir den Abspann des Films nicht abwarteten, konnte ich sie nicht bei Tageslicht betrachten oder gar befragen.
Ehre ist ein spannender, interessanter Film. Das Thema, die Protagonisten, die Herangehensweise. Er stellt sich den Fragen, die er selbst stellt, gibt aber nicht vor (wie einige am Reißbrett erstellte Dokus), die Antworten darauf griffbereit zu haben.
Einzig die Positionierung der Szenen der »Mitternachtssportgruppe« fand ich dramaturgisch etwas zweifelhaft, weil sich hier, kurz vor Ende des Films, fast kein ernsthaftes Gespräch einstellen will. Dies ist aber auch mein einziger Kritikpunkt, ich kann den Film ansonsten nur empfehlen - und damit er auch für den Betrachter spannend bleibt, habe ich absichtlich eher wenig davon preisgegeben, was im Film so passiert.