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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




23. April 2013
Thomas Vorwerk
für satt.org


Frieda Grafe – 30 Filme


Wie Film Geschichte
anders schreibt

In Deutschland eine feste Größe, im Ausland kaum bekannt. Um den zweiten Teil dieses Zustands zu korrigieren, haben sich drei Kuratoren an das Arsenal gewandt, um über die »30 Filme«, die Frieda Grafe 1996 für das »Steadycam« zusammenstellte, und eine dreiteilige Filmreihe neues Interesse an der 2002 verstorbenen Filmjournalistin zu erwecken. Die 30 Filme werden auf drei Zehner-»Inseln« verteilt, wovon die erste in den fünf Tagen vom 24. bis 28. April im Arsenal gezeigt werden. Der Rest folgt im Juli bzw. Oktober.

Die Filme werden jeweils mit einer kleinen Einführung vorgestellt (u. a. von Jonathan Rosenbaum, Christian Petzold oder dem unvermeidlichen Ulrich Gregor), begleitend erscheinen auch drei hübsch gestaltete Bände (vom Verlag Brinkmann & Bose, der auch die gesammelten Schriften Grafes veröffentlichte), in denen sich ebenfalls Texte dieser »Einführungs«-Autoren zu den Filmen finden, außerdem reichlich Bildmaterial und jeweils eine eigene 30er-Liste. Die in den meisten Fällen genauso eigenwillig ausfällt (eine beinhaltet keinen Film vor 1959!) wie einst bei Frau Grafe, die von Billy Wilder etwa Avanti! in ihre Liste aufnahm (»Für Leute, die Kalauer mögen und über gammlige Witze dann erst richtig lachten, wenn sie sie zum x-ten Mal hören«, Grafe 11.77), oder das anspruchsvolle Experimentalkino von Michael Snow neben eher alberne Filme wie Roger Cormans The Little Shop of Horrors oder Jerry Lewis in The Bellboy stellte. Grafes Liste zeichnet sich schon dadurch aus, dass selbst langjährige Filmfreunde mitunter weniger als die Hälfte oder gar nur ein Drittel der Filme gesehen haben.

Die komplette Filmliste findet man unter anderem in der wikipedia, meine ganz persönliche 30er-Liste rundet diesen Artikel ab nach zwei Rezensionen zu Filmen aus dem ersten Drittel der Filmreihe.

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U samogo sinego morya

U samogo sinego morya
(Boris Barnet, S. Mardanin)

UdSSR 1936, Dt. Titel: Am Rande des Blauen Meeres, Am blauesten aller Meere, Intern. Titel: By the Bluest of Seas, Buch: Klimenti Mints, Kamera: Mikhail Kirillan, Musik: S.I. Pototski, mit Nikolai Kryuchkov (Alyosha), Lev Sverdlin (Yussuf), Yelena Kuzmina (Masha), Semyon Svashenko (Kolchosen-Präsident), Alexei Dolinin, Sergei Komarov, Lyalya Sateyeva, Aleksandr Zhukov, 71 Min.

Dieser Film benimmt sich mitunter wie ein sehr früher Tonfilm, hält aber gleichzeitig an den Erzählungsparametern des Stummfilms fest. Wo es sich nicht zwingend aufdrängt, Informationen über den Dialog zu vermittelt, setzt man gerne Zwischentitel ein. So auch gleich zu Beginn, wo man wie einst Shakespeare mit einem Sturm und Schiffbrüchigen in medias res einsteigt. Ganz den russischen idealen der Filmmontage verpflichtet, heißt das zunächst: Zwei Einstellungen vom wilden schäumenden Meer, dann dazwischen einige Möwen, die scheinbar hervorragend dazu abgerichtet wurden, immer wieder zwischen dem Kameraobjekt und der Sonne durchzufliegen, was hübsche Silhouetten und maritime Atmosphäre ergeben. Diese Bildfolge wiederholt man ruhig auch einmal (um es vorwegzunehmen: der Film endet exakt auf die selbe Art), erst dann schneidet man auch mal die beiden Schiffbrüchigen dazwischen, die sich tatsächlich im Wasser befinden, auch wenn diese Szene erst durch die Macht der Montage und der zuschauerlichen Imagination an den selben Ort versetzt wird, wo eben noch die mächtigen Wellen haushoch aufeinander schlugen. Als Mustergültigkeit der Authentizität gibt es dann noch eine Einstellung, die die beiden Matrosen, die sich an einen Schiffsmasten o. ä. krallen, abermals in Silhouettenform vor der untergehenden Sonne zu sehen sind. Und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal mit einer Rückprojektion realisiert.

Auch wenn hier wie im zünftigen Revolutionskino das sozialistische Arbeiterleben idealisiert wird, geht der Film noch einige Schritte weiter und erstellt ein romantisiertes naiv-märchenhaftes Paradies im trauten Zusammenspiel mit der Natur. Wer Mechaniker ist, darf zwar seine besonderen Kenntnisse einsetzen (und wenn Gevatter Schraubenzieher gerade seinen Sentimentalen hat, zeigt sich, dass die Kette nur so stark ist wie das Einzelglied), aber hier sind alle Fischer gleich (die drei Hauptfiguren, von denen eine weiblich ist, tragen sogar dasselbe gestreifte Hemd).

Wie der Einstieg in die Geschichte über die zwei Schiffbrüchigen ist auch die Kernhandlung ein Klassiker: zwei beste Freund, zwischen die sich eine Frau schiebt. Das gibt Anlass für unterschiedlich besetzte Gesangseinlagen, wirkt zwischenzeitig wie ein abgekartetes Spiel (der siegfriedähnliche blonde Hüne hat bessere Karten als der eher gedrungene Schwarzhaarige mit Namen Yussuf), doch dieser Film hat trotz kurzer Laufzeit und überschaubaren Erzählung einiges an Überraschungen parat, die er per Filmmaking ohne Scheu oder Scham vermittelt. Gerade mit dem geschulten Blick des heutigen Zuschauers offenbaren sich unzählige Tricks und narrative »Abkürzungen«, doch selbst die Klischees wirken selbst heute noch charmant. Wie Alyosha und Masha sich immer wieder angrinsen, als hätten sie gerade zusammen den Super-Jackpot geknackt, wie Yussuf gegen die schlechten Vorzeichen ankämpft, sich aber (wie sein Freund) eine gewisse Ehrenhaftigkeit bewahrt, das fordert den Betrachter weder intellektuell noch emotional, doch selbst die propagandistischen Elemente wie Treue als höchstes Ideal gegenüber dem Vaterland wirken hier liebenswert.

Und dann gibt es die kleinen filmischen Momente, die wirklich verzücken. Etwa das Zerspringen einer Halskette in Zeitlupe, mit munter klimpernder Geräuschkulisse dazu. Oder die auffällig sexuell konnotierte Handbewegung, mit der der vermeintliche Gentleman mehrfach einen Blumenstrauß in eine Vase stopft, dass man annehmen muss, es gehe ihm ausschließlich um eine platonische Verehrung.

»Licht des Kommunismus«, so heißt die Kolchose, so könnte auch ihre von allen auf die gleiche Art geliebte Anführerin (Yelena Kuzmina) heißen, und als Metapher für den Film an sich bietet sich das »Licht« auch immer gerne an. Freude am Leben, an der sozialistischen Arbeit, und an der Kunstform verbreitet dieses historisch wahrscheinlich unbedeutende Werk, auf das auch eines der schönsten Zitate des Filmjournalismus überhaupt passt, die weisen Worte des seinerzeit noch minderjährigen C. D. Gerstner, der den Kern der Disney-Version von The Hunchback of Notre Dame in einem Satz zusammenfasste: »Und am Ende sind alle gute Freunde.« Ostalgie, die das Herz erwärmt.

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D. O. A.

D. O. A.
(Rudolph Maté)

Dt. Titel: Opfer der Unterwelt, USA 1950, Buch: Russell Rouse, Clarence Greene, Kamera: Ernest Laszlo, Schnitt: Arthur H. Nadel, Musik: Dimitri Tiomkin, mit Edmond O'Brien (Frank Bigelow), Pamela Britton (Paula Gibson), Luther Adler (Majak), Beverly Campbell (Miss Foster), Lynn Baggett (Mrs. Philips), William Ching (Halliday), Henry Hart (Stanley Philips), Neville Brand (Chester), Laurette Luez (Marla Rakubian), Jess Kirkpatrick (Sam), Cay Forrester (Sue), Fred Jaquet (Dr. Matson), Larry Dobkin (Dr. Schaefer), Frank Gerstle (Dr. MacDonald), Carol Hughes (Kitty), Donna Sanborn (Nurse), Virginia Lee (Jeanie), Teddy Bruckner (Trompeter), 71 Min.

In einer den beschämend wenigen Pressevertretern vorbehaltenen Einführung der Grafe-Filmreihe von Kuratorin Annett Busch erfuhr man auch, dass einige der »roten Fäden« in Grafes Filmauswahl etwa die »starken Frauenfiguren aus dem Arbeitermilieu« seien (derwohl gleichzeitig keiner der Filme von einer Regisseurin stammt), und das ferner Grafes Vorliebe für derben Witz und Frivolitäten sich mehrfach in der Filmauswahl manifestierte.

Davon kann man sich auch in D. O. A. versichern, einem einerseits erstaunlich harten und geradlinigen Vertreter des Film Noir, der sich aber auch Zeit nimmt für humoristische Ausflüge. Von Beruf ist Frank Bigelow (Edmond O'Brien) Notar, doch er benimmt sich wie ein hard-boiled detective par excellence. Wie marlowe oder Spade hat er eine (eigentlich sogar zwei) bezaubernde Vorzimmerdame (Pamela Britton), die ihm nicht nur ewige Treue schwören würde, bei einem harmlos erscheinenden Wochenendausflug erteilt sie ihm sogar einen verbalen Freibrief: »What I wanna say is that there's nothing you can do that you ever have to feel guilty about ...« Und so landet Frank in einem Hotel, wo ein reger Messebetrieb mit unzähligen Verlockungen winkt. Während er durch die Hotelflure geht, werden die amüsierfreudigen Nachbarinnen jeweils durch ein schriftlich nicht schwer wiederzugebendes Pfeifgeräusch betont, das für viele Zuschauer den Streifen wahrscheinlich schon automatisch misskreditieren wird.

Und dabei bleibt es nicht: In einem Jazz-Schuppen namens »The Fisherman« trifft er dann auch noch auf eine Musik-Enthusiastin, die es an mühsam unterdrückter Laszivität mit der legendären Buchverkäuferin aus The Big Sleep (Howard Hawks, 1946) aufnehmen könnte. Anstandshalber schanzt man der Figur drei oder vier Dialogsätze zu, doch die Kernaussagen, die aus je einem Wort bestehen, wiederholt die junge Dame mehrfach: »Jeanie« und »Easy«, ihren Namen und ihren Lebensstil, die sich gegenseitig ergänzen und sogar fast reimen.

Doch dummerweise (für Mr. Bigelow) ist D. O. A. keine Sexkomödie (auch, wenn es immer wieder telefonischen Kontakt zur zurückgelassenen Sekretärin gibt), sondern eine ziemlich knallharte Kriminalgeschichte, die bereits damit beginnt, dass Bigelow bei der Polizei vorspricht, sich als »toten Mann« vorstellt und dann die Geschichte des Films in einer langen Rückblende zum Besten gibt. Ähnlich, wie es Billy Wilder in Double Indemnity (1943) und Sunset Boulevard (1950) tat.

Bigelow wurde vergiftet, und gleich zu Beginn der Rückblende wird ihm offenbart, dass er keinerlei Überlebenschancen mehr hat. Ein narrativer Kniff, wie er auch heutzutage noch gern angewandt wird, auch wenn dann oft zum Schluss doch noch eine Rettung arrangiert wird. Ob dies auch in diesem Film der Fall ist, werde ich an dieser Stelle natürlich nicht verraten.

Mindestens so interessant wie die Erzählstruktur und die »Frivolitäten« ist aber die Figur des Bigelow als Detektiv (auch, wenn dies nicht seine Berufsbezeichnung ist), wie er zumindest den Mord an seiner Person aufklären möchte. In gewisser Weise entspricht seine Herangehensweise dem Zeitdruck, unter dem die Figur steht, irgendwie wirkt es aber auch wie eine subtile Parodie des gesamten Genres, wie Bigelow oft bereits beim ersten Gespräch mit einer Person erkennt, mit welcher anderen Person diese gemeinsame Sache macht. Da müssen Marlowe oder Spade sich mindestens eine blutige Lippe schlagen lassen und eine Nebenfigur ihr Leben aushauchen, bis diese Vorzeigeschnüffler eine derartige an Sherlock Holmes gemahnende Kombinationsgabe vorführen.

Eine Nebenfigur, die noch markanter ist als die erwähnte Jeanie ist der Schläger eines der Schurken, ein Kerlchen namens Chester, dessen Probleme sein Boss einfühlsam umschreibt: »He's an unfortunate guy. He's psychopathic. He can't be happy unless he causes pain.« Chester ist ein Sadist wie aus dem Bilderbuch, mit Sprüchen, wie man sie auch heutzutage noch im Kino hört (»I'm gonna enjoy this!«).

D. O. A. hat alles, was Pulp Fiction ausmacht: snappy one-liners, high-class dames, lose Moralvorstellungen (sehr schön in diesem Zusammenhang: der Fotograf, der sich weigert, sensible Informationen aus seinem Archiv herauszugeben), dann noch eine bemerkenswerte Verfolgungsjagd (Limousine gegen Linienbus) und einen mysteriösen Täter, der anfänglich aussieht wie H.G. Wells' Invisible Man.

Ebenfalls kein Hauptwerk seines Genres, aber ein Film, der das Herz eines Freundes des Kriminalfilms höher schlagen lässt. Und um Klassen besser als das allermeiste, was heutzutage in dieser Richtung im Kino läuft …

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Thomas Vorwerk: 30 Filme

  • Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1919)
  • Broken Blossoms (D.W. Griffith, 1919)
  • Sunrise (Friedrich Wilhelm Murnau, 1927)
  • Menschen am Sonntag (Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer u.a., 1929)
  • City Lights (Charles Chaplin, 1931)
  • Mädchen in Uniform (Leontine Sagan, 1931)
  • Bringing up Baby (Howard Hawks, 1938)
  • The Wizard of Oz (Victor Fleming, 1939)
  • Cat People (Jacques Tourneur, 1942)
  • Letter from an Unknown Woman (Max Ophüls, 1948)
  • Gun Crazy (Joseph H. Lewis, 1949)
  • Artists and Models (Frank Tashlin, 1955)
  • The Apartment (Billy Wilder, 1959)
  • Les quatre-cents coups (Francois Truffaut, 1959)
  • Breakfast at Tiffany's (Blake Edwards, 1960)
  • Il posto (Ermanno Olmi, 1961)
  • Repulsion (Roman Polanski, 1965)
  • Zur Sache, Schätzchen (May Spils, 1967)
  • A Clockwork Orange (Stanley Kubrick, 1971)
  • What's up, Doc? (Peter Bogdanovich, 1972)
  • Zelig (Woody Allen, 1982)
  • After Hours (Martin Scorsese, 1986)
  • The Princess Bride (Rob Reiner, 1987)
  • Hotaru no haka (Isao Takahata, 1988)
  • Fargo (Joel Coen, 1996)
  • The Sweet Hereafter (Atom Egoyan, 1997)
  • Galaxy Quest (Dean Parisot, 1999)
  • Dancer in the Dark (Lars von Trier, 2000)
  • American Splendor (Shari Springer Berman & Robert Pulcini, 2003)
  • Elephant (Gus Van Sant, 2003)