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15. Oktober 2014
Thomas Vorwerk
für satt.org


  20.000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard)


20.000 Days on Earth
(Iain Forsyth, Jane Pollard)

UK 2014, Buch: Nick Cave, Iain Forsyth, Jane Pollard, Kamera: Erik Wilson, Schnitt: Jonathan Amos, Musik: Nick Cave, Warren Ellis, Production Design: Simon Rogers, Art Direction: Ben Ansell, Lucy Hayley, mit Nick Cave, Warren Ellis, Blixa Bargeld, Ray Winstone, Susie Bick, Arthur Cave, Earl Cave, Darian Leader, Kylie Minogue, Kirk Lake, Lizzie Phillips, 97 Min., Kinostart: 16. Oktober 2014

Für den Verlauf eines Jahres lege ich mir bestimmte Vorgaben zurecht (manche sprechen hierbei von »Vorsätzen«), die ich gerne erfüllen möchte. Am besten klappt das beim kulturellen Konsum. 175 Filme im Kino sehen, 60 Bücher lesen etc. Bei meiner Vorgabe von 15 Dokumentarfilmen bin ich Mitte Oktober erst bei 13 angekommen, aber ich habe mich dennoch dagegen entschieden, diesen als Doku angepriesenen Film mitzuzählen.

20.000 Days on Earth beschäftigt sich mit dem (von Nick Cave miterdachten) zwanzigtausendsten Tag des aus Australien stammenden und in London lebenden Sängers, Songwriters und Romanautors. Und dieser, für das bisherige Leben und Schaffen Caves exemplarisch stehende Tag, ist eben nicht das Ergebnis eines den Künstler für 24 Stunden begleitenden Kamerateams, sondern eine von langer Hand orchestrierte Inszenierung, mit Schauspielern und Production Designern, die in Dokumentarfilmen nicht zwangsweise involviert sind.

20.000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard)

Bildmaterial: Rapid Eye Movies    
 

Es beginnt schon mit einem Säuglingsschrei, quasi Caves erstem musikalischen Auftritt. Während in der Bildecke ein Tages-Countdown läuft, der sich rasant auf die so magische wie arbiträre Zahl 20.000 hinbewegt, sieht man im Vorspann des Film 15 Monitore, die dem, der sich ein wenig mit Cave auskennt, viele Einblicke in die Karriere des Australiers bietet. Dazu hört man zunächst das Geräusch eines Filmprojektors (mir ist in letzter Zeit öfters aufgefallen, dass man dieses Geräusch in »Dokus« auch dann verwendet, wenn gar kein Projektor im Spiel ist), später hat man sich dann für das Ticken einer Uhr entschieden (aber die 20.000 wird nicht erreicht – weil man das Zahlenspiel eben nicht zu ernst nimmt).

Der eigentliche Tag beginnt dann, Nick liegt im Bett, der Wecker klingelt, an der komplexen Kamerafahrt ist gut abzusehen, dass hier vieles inszeniert ist, Cave selbst sein Aufwachen nur spielt, ehe er dann als Voice-Over-Kommentar das Prinzip des Films kurz erklärt. Ob nur im Film oder als Grundprinzip seines künstlerischen Daseins, er ist der »Schöpfer seines eigenen Universums, einer absurden, verrückten, gewalttätigen Welt« (freie Übersetzung).

20.000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard)

Bildmaterial: Rapid Eye Movies    
 

Alles sehr artifiziell und konstruiert, aber teilweise auch extrem clever und hübsch anzusehen, etwa die Schnittkante von seiner Schreibmaschine zu Klaviertasten.

Beim Vorspann konnte man schon (unter anderem) PJ Harvey und Kylie Minogue kurz sehen, in der nächsten Szene sitzt Nick im Auto, im Autoradio läuft »Can't get you out of my mind«, er schaltet verärgert ab, und an dieser Stelle werden dann auch mal seine Frau Susie (lag vorhin auch im Bett) und die Kinder erwähnt – auffallend ist aber der Zeitpunkt, der angebliche Zufall und die angedeutete Bedeutungschwere einer früheren Beziehung, von der man weiß, dass sie irgendwann auch eine Rolle im Film spielen wird (denn Kylies ist ja auf dem Plakat zu sehen).

20.000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard)

Bildmaterial: Rapid Eye Movies    
 

Ein Interview mit dem Psychoanalytiker Darian Leader (nicht Caves wirklicher Therapeut) wird einige Erzählungen aus der Jugend Caves bebildern, durch den Einsatz von Monitoren ist man sich als unbedarfter Zuschauer anfangs nicht ganz sicher, ob dies nun ein professionelles Interview sein soll oder doch privat-medizinisches Gespräch. Doch im Verlauf des Films, wie ich eingangs erklärte, wird man sich immer sicherer, dass fast alles inszeniert ist (und auch nicht an einem Tag gedreht wurde, denn Cave jettet im Verlauf der Film-»Handlung« unter anderem nach Frankreich, Australien und wieder zurück).

Cave, der Therapie-Patient. Cave, der Romanautor. Und vor allem Cave, der Drehbuchautor. Dies ist definitiv kein Dokumentarfilm, sondern eine narrativisierte Selbstdarstellung. WAs aber, wenn man sich für Nick Cave interessiert, eigentlich viel interessanter ist.

20.000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard)

Bildmaterial: Rapid Eye Movies    
 

Denn so erzählt er dem Therapeuten von seiner Kindheit (»a daredevil childhood«). Und wie sehr sich die Kindheit seiner Söhne davon unterscheiden wird. Dann geht es weiter mit frühen Sexerlebnissen und dem Tod des Vaters, als er 19 war. Dr. Leader fragt nach »Should we stop here?«, und schon sitzt Nick in seinem Auto, neben sich ein älterer Herr mit Sonnenbrille (Ray Winstone), der zwar von seinem eigenen Leben (oder einem fabrizierten Konstrukt) spricht (inklusive Schauspielerfahrungen bei der Darstellung von Heinrich VIII), aber nebenbei suggeriert, hier als Platzhalter des Vaters zu fungieren. Oder vielleicht einfach als Halluzination Caves.

Dann besucht Cave seinen alten Mitstreiter Warren Ellis (der hier auch mitbeteiligt war am Soundtrack), und man tauscht Anekdoten über Nina Simone und Jerry Lee Lewis aus. Und davon geht es zu einer Studioaufnahme mit einem französischen Kinderchor. Der nächste Beifahrer ist dann Blixa Bargeld, der übrigens nicht namentlich vorgestellt wird. Für Cave-Novizen fordert der Film vermutlich zuviel an Vorwissen – aber sorry, wenn man sich wie ich seit drei Jahrzehnten (Kicking against the Pricks war meine Initiation, Grüße an Gaz Top!) mit Nick Cave befasst, hat man auch nicht so viel Rücksicht gegenüber Spätgeborenen oder schlichtweg Ignoranten.

20.000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard)

Bildmaterial: Rapid Eye Movies    
 

Ob Nick beim Komponieren des Higgs-Boson Blues (ich glaube, alle Songs des Films stammen vom 2013er-Album Push the Sky away) tatsächlich das Physik-Fachwerk Technicians of the Sacred neben dem Klavier stehen hatte, ist auch so ein Beispiel für eine ganz gezielt zusammengebastelte Fiktion, die vielleicht doch ein Quentchen Wahrheit enthalten mag. Doch spätestens, wenn er dann mit seinen halbwüchsigen Söhnen eine der blutrünstigsten Szenen von Brian De Palmas Scarface gemeinsam zelebriert (sie sprechen sogar den Dialog »Say hello to my little friend« mit), dann wird besonders deutlich, dass es hier um die von Cave persönlich mythologisierten und edierten Memoiren seiner selbst geht. Die Dokumentarfilmer sich vielleicht die Initiatoren des Projekts, doch Cave hat es ganz auf seine eigenen Vorstellungen zugeschnitten.

Der Film hat einige weitere hübsche Ideen, bei denen man erneut wieder etwas informiert sein sollte (wer keinen Schimmer hat, wer Michael Hutchence ist, wird einige Zusammenhänge nicht verstehen), wobei mir übrigens aufgefallen ist, dass bei den Personen, die das Auto mit Nick teilen dürfen, Kylie Minogue die einzige ist, die auf den Rücksitz verbannt wird. Über solche Details nachzudenken, ist irgendwie das Großartigste an dem Film. Man durchleuchtet den gesamten Film und fragt sich, wo Cave tatsächlich durchschimmert. Und wo er nur hinter den Kulissen die Puppen spielen lässt.