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10. September 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


  45 Years (Andrew Haigh)
45 Years (Andrew Haigh)
Bildmaterial © Agatha A. Nitecka
45 Years (Andrew Haigh)
45 Years (Andrew Haigh)
45 Years (Andrew Haigh)


45 Years
(Andrew Haigh)

Großbritannien 2015, Buch: Andrew Haigh, Lit. Vorlage: David Constantine, Kamera: Lol Crawley, Schnitt: Jonathan Alberts, Production Design: Sarah Finlay, mit Charlotte Rampling (Kate Mercer), Tom Courtenay (Geoff Mercer), Geraldine James (Lena), Dolly Wells (Charlotte), David Sibley (George), Sam Alexander (Chris the Postman), Richard Cunningham (Mr. Watkins), Hannah Chambers (Travel Agent), Camille Ucan (Café Waitress), Rufus Wright (Jake), 93 Min., Kinostart: 10. September 2015

Wenn man sich die Zeit nimmt, David Constantines Kurzgeschichte In Another Country zu rezipieren (liest der Autor auf Youtube höchstpersönlich vor), stellt man schnell fest, dass dies mehr eine Inspiration für den Film war. Nicht nur spielt die Vorgeschichte jetzt nicht mehr während des Zweiten Weltkriegs, auch ist das Ende anders und die Perspektive größtenteils verändert, die eigentliche Hauptfigur ist im Film Kate Mercer (Charlotte Rampling), man erlebt gefühlt 80% der Geschichte aus ihrer Sicht, die Szenen, die ihren Mann Geoff (Tom Courtenay) zeigen, wirken vergleichsweise weniger dramatisch. Vor allem, weil Kates Blick auf diese Szenen (sie ist nicht immer direkt dabei, bekommt aber nach und nach schon das meiste mit) diese Geoff-Momente später quasi neuinterpretiert und dabei dramatisiert.

Kurz vor der Feier zum 45. Hochzeitstag bringt ein Brief aus der Schweiz die Ehe der Mercers etwas aus dem Gleichgewicht. Die Leiche von Katya, der großen Liebe Geoffs – bevor er Kate überhaupt kannte, wurde in einem Gletscher in der Schweiz wiedergefunden. Und während Geoff sich in einer nostalgischen Obsession übt und beispielsweise nachts auf dem Boden nacht alten Fotos sucht, bedeutet für Kate die »Wiederentdeckung« der größtenteils verschwiegenen großen Liebe eine komplette Neubewertung ihrer Ehe. Und der Film fängt das minutiös und sehr subtil (was nicht für jeden Zuschauer spannend genug sein mag) ein, wie sie daran zu zerbrechen droht. Ob ich mit »sie« die Ehe oder Kate oder beide meine, sei an dieser Stelle mal dahingestellt. Zumindest passiert das größtenteils im Gesicht von Charlotte Rampling, die dafür auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Aber – diese Gleichberechtigungs-Awards sind etwas in Mode gekommen – Tom Courtenay bekam ebenfalls den entsprechenden Silbernen Bären.

Wie Charlotte Rampling in dieser Rolle den Boden unter den Füßen verliert, das geschieht natürlich auf einer psychischen Ebene – ganz im Kontrast zur in der Gletscherspalte verschwindenden Katya, die aber im Film fast nur als Bildmotiv existiert.

Gleich zu Beginn des Films sieht man die Vorspanntitel auf einem grisseligen schwarzen Hintergrund, auf der Tonebene durch typische Geräusche eines Diaprojektors untermalt. Die Szene mit dem Diaprojektor (Kate schaut sich die alten Bilder von Katya an) ist zwar eine clevere visuelle Umsetzung einiger Themen der Kurzgeschichte, aber für den detailversessenen Erbsenzähler ist dies auch die filmisch holprigste Stelle des Films, denn die Kadrierung ist so, dass man jeweils Kate im Bildvordergrund sieht (damit man ganz direkt ihre Reaktion miterlebt und auf den Schnitt verzichten kann) und sie dabei einen nicht geringen Teil des Projektorbildes »überschattet«. Und weil man als Kritiker manchmal auf die seltsamsten Dinge achtet, ist es dann schon seltsam, wie häufig bei den Fotos von Katya diese hübsch am rechten Bildrand steht. Aber ähnlich wie bei der etwas aufdringlichen akustischen Umsetzung des draußen wütenden Windes (auch schon in der Kurzgeschichte vorhanden) oder dem zu plumpen Übergang von einem sexuellen Versagen im Ehebett zu einem nächtlichen Ausflug zum Dachboden ist das allesamt Jammern auf hohem Niveau, dafür hat man die großartig zusammengestellte Songliste für die Feier, den nuancenreich umgesetzten Schluss des Films (in der Kurzgeschichte komplett anders – und nicht unbedingt besser) oder meinen persönlichen Liebling, den »Schwimmer« im Toilettenkasten, die vielleicht trivialste Metapher aller Zeiten.

Im Grunde ist 45 Years ein sehr literarischer Film, weil Dialoge, Worte und »Bilder« (im nicht-visuellen Sinn) eine große Rolle spielen. Doch man darf das Quentschen, was über das Bild dazu kommt, die Inszenierung, die Mimik und Gestik, oder kleine Details am Rande einfach nicht unterschätzen.

Ich hätte mir nur noch für den Abspann die Originalfassung des Songs »Tainted Love« (von Gloria Jones) gewünscht. »Once I ran to you, now I run from you …«