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30. September 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Alles steht Kopf (Pete Docter)
Alles steht Kopf (Pete Docter)
Alles steht Kopf (Pete Docter)
Bildmaterial: STUDIOCANAL GmbH
Alles steht Kopf (Pete Docter)
Alles steht Kopf (Pete Docter)
Alles steht Kopf (Pete Docter)


Sicario
(Denis Villeneuve)

USA 2015, Buch: Taylor Sheridan, Kamera: Roger Deakins, Schnitt: Joe Walker, Musik: Jóhann Jóhannsson, mit Emily Blunt (Kate Macer), Benicio Del Toro (Alejandro), Josh Brolin (Matt Graver), Daniel Kaluuya (Reggie Wayne), Victor Garber (Dave Jennings), Jon Bernthal (Ted), Jeffrey Donovan (Steve Forsing), Maximiliano Hernández (Sílvio), Bernardo P. Saracino (Manuel Diaz), Julio Cedillo (Fausto Alarcon), Edgar Arreola (Guillermo), 121 Min., Kinostart: 1. Oktober 2015

Dass der kanadische Ausnahmeregisseur Denis Villeneuve (Enemy) ein wenig mit dem US-amerikanischen Mainstream liebäugelt, zeigte sich schon beim prominent (mit Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal) besetzten Prisoners. Doch eine andere Gemeinsamkeit der beiden massentauglichsten Filme wirkt noch erstaunlicher, denn während Prisoners mit Leichtigkeit als Allegorie auf die US-Politik und die vermeintlich »vertretbare« Folter à la »Der Zweck heiligt die Mittel« zu lesen war (es ging um eine Kindesentführung, bei der ein Vater zu drastischen Mitteln griff), geht es diesmal sogar ganz konkret um die »umstrittenen« (um es nett auszudrücken) Vorgehensweisen von Splittergruppen der US-Regierung bzw. -Behörde im Kampf gegen den US-mexikanischen Drogenkrieg. Vom familiären Mikrokosmos direkt in ein Wespennest der Außenpolitik. Dabei wirkt Sicario anfänglich wie eine Kriminalgeschichte, es wird aber immer deutlicher, dass man eher mit den Mitteln des Kriegsfilms arbeitet.

Die junge FBI-Agentin Clarice Sta- … ähh, Kate Macer (Emily Blunt) hat mit ihrem SWAT-Team bei einer angeblichen Geiselnahme ein grausiges Geheimversteck eines Drogenkartells gefunden und Macer bekommt das Angebot, einer internationalen Task-Force beizutreten, um die »Wurzel des Übels« anzugreifen. Hierbei fällt auf, dass die Einladung nicht auf ihren Kollegen Reggie (Daniel Kaluuya), mit 18 Monaten Erfahrung ein wirklicher Neuling, ausgeweitet wird. Vermutlich, weil er neben einem Irak-Aufenthalt auch noch Jura studiert hat. »No lawyers on this trip.«

Lange Zeit ist sich Kate nicht wirklich sicher, wie ihre neuen »Vorgesetzten« oder »Kollegen« eigentlich zueinander in Bezug stehen. Der beim ersten Gespräch durch seine Flip-Flops auffallende Matt Graver (Josh Brolin) soll ein Berater des Verteidigungsministeriums sein, noch mysteriöser ist aber der Kolumbianer (!) Alejandro (Benicio Del Toro), der lange Zeit wie ein passiver Beobachter wirkt, sich dann aber als Dreh- und Angelpunkt der Einheit erweist. Er soll mal Staatsanwalt gewesen sein, tritt als Berater der DEA (Drug Enforcement Administration) auf und offenbart im Verlauf des Films noch so manche Facette.

Auf der Suche nach dem Kopf des Sonora-Kartells nähert man sich über Familienmitglieder an. Von Anfang an entwickelt der Film eine intensive Spannung, nicht zuletzt durch den wummernden Beat des Scores von Jóhann Jóhannsson (Golden Globe für The Theory of Everything). Man hat das Gefühl, nahezu alles könne jederzeit passieren und bei einer Besprechung mit Texas-Rangern und eher wie Söldnern wirkenden »Experten« erklärt ein Einsatzleiter, »everybody not in this room is a potential shooter«.

Gemeinsam mit Kate erfährt man langsam – sehr langsam – mehr über die Methoden der Task-Force, und abseits von Kates Einblicken erkennt man, dass hier wohl einige (und immer deutlichere) Grenzen der Legalität überschritten werden. Bei einer »Befragung« spult Villeneuve nicht einfach erneut die Folter-Bilder von Prisoners ab, sondern deutet manches nur an. Was die Unsicherheit in Bezug auf Graver und Alejandro nur noch verstärkt. Denn Josh Brolins Figur zeichnet sich durch einen zunächst jovialen Humor aus, der aber bei genauer Betrachtung auch schnell ins Menschenverachtende umzukippen droht – sobald die entsprechenden Personen sich als »verachtenswert« qualifizieren. Auch Benicio Del Toros Alejandro, der oft fast abwesend wirkt, aber jederzeit jedes Detail registriert und ausnutzt, intensiviert die emotionale Achterbahnfahrt noch.

Nach der anfänglichen »Geiselbefreiung« eskaliert eine Auseinandersetzung mit mehr als verdächtig wirkenden Gangster-Typen, mitten im Stau an einer Grenzstelle (zuvor konnte man beobachten, wie flüssig die »Regierungskolonne« das Gefahrengebiet verlassen will). Die Szene erinnert ein wenig an den zur Materialschlacht ausartenden Showdown in Michael Manns Heat, doch Villeneuve betont eher, wie kontrolliert man mit der Bedrohung umgeht. Aber noch beeindruckender als der Schusswechsel ist auch hier die drückende Atmosphäre zuvor.

Im Grunde ist der Film wie ein nächtlicher Spaziergang über einen zugefrorenen See. Es knackt und knirscht hier und da, es wird immer kälter, aber es geht immer weiter geradeaus und scheint nur eine Frage der Zeit, bis es übel enden wird.

Rein politisch gesehen wirkt Sicario noch deutlich brisanter als Prisoners. Insbesondere deshalb, weil man zwar zusammen mit Kate immer wieder und immer stärker die Übertretungen gewisser Menschenrechte verurteilt, man dabei aber damit konfrontiert wird, dass diese Herangehensweise tatsächlich zu funktionieren scheint. Wodurch man in Versuchung gebracht wird, manches positiv zu bewerten, was rein rechtlich unvertretbar ist. Gleichzeitig lässt sich der Film aber die (dringend notwendige) Hintertür offen, von einem liberalen Standpunkt aus vieles zu verurteilen. Villeneuve hat hierfür noch einen Subplot parat, der den Alltag einer mexikanischen Kleinfamilie zeigt. Und man ahnt dabei sehr schnell, dass die Handlungsstränge sich irgendwann überkreuzen werden und es nicht nur dabei bleibt, dass der mexikanische Papa, der mit seinem Sohn zum Fußballspiel gehen soll, die selbe Zigarettenmarke wie Kate raucht.

Was einen Regisseur wie Villeneuve auszeichnet, ist der Einsatz kleiner (oder nicht so kleiner), aber auffälliger Inszenierungsmittel. Etwa die reichlichen Luft- und Überwachungsaufnahmen, die wie in der ferngesteuerten Kriegsführung eine Distanzierung erreichen, die dann in sehr intimen Konfrontationen wieder aufgelöst wird. Außerdem ist dieses Stilmittel ein Hinweis darauf, dass beide Fronten in diesem Krieg ansatzweise mit denselben Mitteln arbeiten (was mir aber auch erst bei der zweiten Sichtung des Films aufgegangen ist).

Weniger leicht zu deuten ist das mehrfache Auftauchen von »geschwindigkeits­verringernden« Hindernissen auf einigen Straßen (sowohl in Mexiko als in den USA). Es ist vielleicht etwas weit ausgeholt, aber auf mich wirkte dieses winzige (aber auffällige) Detail wie ein Hinweis des Films darauf, dass das legitime Vorgehen gegen die internationale Drogenkriminalität ungefähr so eingeschränkt sinnvoll wie ein paar Huckel auf der Straße ist: Die Geschwindigkeit bzw. der »Fortschritt« werden dadurch in einem Maße reduziert, der die Maßnahmen lachhaft und nutzlos erscheinen lassen. Solche durchaus fragwürdigen politischen Botschaften (egal wie »unterschwellig« sie erscheinen mögen) waren in Prisoners weitaus seltener. Dadurch wird Sicario noch nicht gefährlich in seiner Aussage (die Reaktionen eines beinahe »normalen« Publikums bei einer Kinovorstellung fand ich hier teilweise beunruhigend), aber die Alarmglocken schrillen bei mir bereits, wenn Foltermethoden für witzige Pointen missbraucht werden oder »quasi-sanktionierter« Mord eine Spur zu »cool« dargestellt wird.

Der Dreh- und Angelpunkt des Films ist aber Kate Macer (Emily Blunt verbindet Verletzlichkeit und Action-Helden-Gestus fast so großartig wie Jodie Foster oder Sigourney Weaver), deren Figur aber – konzentriert beobachtet – ein ähnliches Problem wie das gesamte Drehbuch hat: alles ist sehr geradlinig konstruiert. Während des Films funktioniert die Ungewissheit und die Spannung perfekt, aber im Nachhinein beobachtet man fast ein Uhrwerk. Es bleibt zwar Raum für Ambivalenz, aber für äußerst fragwürdige Unternehmungen läuft einfach alles zu sehr wie am Schnürchen. Ein zu genau konstruiertes Drehbuch kann auch eine Schwäche sein. Insbesondere, wenn es sich auf die falschen Punkte konzentriert.

Aber rein inszenatorisch ist das schon ein großartiger Film, und solange die Ärgernisse sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängen, übersehe ich dafür auch gern mal etwas. Und hoffe, dass Villeneuve sich in seinem nächsten Film nicht noch stärker in Richtung Irrweg orientiert.