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27. April 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Lenas Klasse (Iwan I. Twerdowskij)






Lenas Klasse
(Iwan I. Twerdowskij)

Russland / Deutschland 2014, Originaltitel: Klass korrekzii / Klass korrektzii*, Buch: Dimitrij Lantschichin / Dmitry Lanchikhin*, Iwan Twerdowskij / Ivan I. Tverdovskiy*, Mariya Borodyanskaya* (letztere wird nur auf imdb erwähnt), Lit. Vorlage: Jekaterina Muraschowa, Kamera: Fjodor Struchew / Fedor Struchev*, Schnitt: Iwan I. Twerdowskij, mit Mascha Peoshaewa / Mariya Poezzhaeva* (Lena Chekhova), Philipp Awdejew / Filipp Avdeev* (Anton Sobolev), Nikita Kukuschin / Nikita Kukushkin* (Mika / Mishka*), Natalya Pavlenkova* (Svetlana Viktorovna, Lena's mother), Yuliya Serina* (Vitka), Artyom Markaryan* (Mitka), Mariya Uryadova* (Olya), Natalya Domeretskaya* (Tereza Pavlovna Kuznetsova, principal), Zhanetta Demikhova* (Olga Nikolaevna, cleaning woman), Olga Lapshina* (Polina Grigorevna, Anton's mother), Irina Vilkova* (Lyudmila Nikolaevna), Elena Nesterova* (Math teacher), Marina Nikolayeva* (Elena Viktorovna), Olga Roslova* (Biology teacher), 89 / 98* Min., Kinostart: 28. April 2016

Die 16jährige Lena leidet an Myopathie und sitzt deshalb meist im Rollstuhl (unter großer Anstrengung kann sie aber auch gehen). Nach mehreren Jahren Heimunterricht soll sie nur eine »Sonderklasse« (correction class*) besuchen, in der sie und ihre Klassenkameraden sich durch eine abschließende Prüfung für eine Übernahme in eine »normale« Klasse qualifizieren können.

Der Film beginnt mit Lenas erstem Schulweg. Ihre Mutter schiebt den Rollstuhl zur Schule, weil ein Jugendlicher von einem Zug erfasst wurde, kommen die beiden zu spät, an der Schule wird der erste Schultag (oder etwas anderes?) mit großem Brimborium gefeiert, die Schulleiterin kümmert sich nur ungern um die neue Schülerin, die aus ihrer Sicht schon durch ihr Zuspätkommen eine »Sonderbehandlung« verwirkt hat.

Vieles am gezeigten Schulalltag wirkt aus westlicher Sicht befremdlich. So bringen Schüler bzw. Eltern mehrfach Blumen für das Lehrpersonal mit, diese »Geschenke« wirken fast obligatorisch, doch zu keinem Zeitpunkt hat man das Gefühl, dass irgendeines der möglichen Verhältnisse (Lehrer / Schüler; Lehrer / Eltern) besonders herzlich sei. Insbesondere um die »Sonderklasse« kümmert man sich eher weniger, keiner Lehrkraft scheint daran gelegen, die unter sehr unterschiedlichen Behinderungen leidenden Kinder zu unterstützen oder zu motivieren. Das wird superdeutlich an einer Rollstuhlrampe, die extra für Lena angebracht wird. Mal ganz abgesehen vom eher behäbigen Bautempo ist es aber so, dass zum einen der Steigungswinkel im Alleingang nicht ansatzweise zu bewältigen ist (ohne einen Gewichtheber als Unterstützung scheint es auch zu zweit unmöglich) – und bei den direkt auf die vorhandene Treppe »aufgetragenen« »Gleisen« hat man ferner noch die unterste Stufe »weggelassen«. Die Rollstuhlrampe wirkt also nicht wie eine Hilfestellung, sondern wie ein zusätzlicher Hohn auf Lenas Kosten.

Lenas Klasse (Iwan I. Twerdowskij)

Ähnlich ist auch die Behandlung durch die Schuldirektorin – oder, um zu zeigen, dass die abweisende Haltung allumfassend ist, selbst durch eine Putzfrau, die Lena bittere Vorwürfe macht, dass sie mit ihrem Rollstuhl den Boden zusätzlich verschmutzt. Und als dann ein Mitschüler darauf hinweist, dass diese Streifen offensichtlich vom Abrieb von Turnschuhen stammt, folgt nicht einmal ansatzweise so etwas wie eine Entschuldigung.

Für den Zuschauer ist klar, dass mit dieser Adaption des Romans einer Kinderpsychologin eine Aussage getätigt werden soll. Und lange Zeit geht man davon aus, dass das russische Schulsystem und die Behandlung von Behinderten hart kritisiert werden sollen.

Doch dies ist nur ein Aspekt des Films.

Als »Neue« in der Klasse geht es für Lena neben der erstrebten Qualifikation auch darum, akzeptiert zu werden. In Sachen gesellschaftlicher Interaktion hat sie es offensichtlich schwer, da sind die Gleichaltrigen mit ähnlichen Problemen natürlich ein guter Ansatzpunkt. Das funktioniert sogar ziemlich prächtig, manchmal glaubt man fast, eine Spur zu gut (man weiß ja als Zuschauer nur wenig über Lena, aber wie sie sich trotz aller Hindernisse energisch durchsetzt – »Wenn wir die Prüfung nicht bestehen, müssen wir ein Leben lang Schachteln falten!« – , wirkt teilweise auch etwas zu heldenhaft).

Lenas Klasse (Iwan I. Twerdowskij)

Schon am ersten Tag bemerkt man, dass Lena sich für einen Mitschüler, Anton, besonders zu interessieren scheint. Und wie sie dessen Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist ebenfalls etwas zu »leichtfüßig« bis routiniert. Um diese junge Liebe, die Lena viel Halt gibt, geht es im Film auch – und nicht nur für junge Zuschauer verstärkt dies natürlich die Identifikation.

Als Zuschauer fühlt man sich generell den »Sonderklässlern« ziemlich nahe. Ihre rebellischen, kindischen oder unsozialen Aktionen erinnern an Lars von Triers Idioterne, und wenn sie sich nach der Schule in einer kleinen Gruppe bei den Bahnschienen treffen erinnert das an die eigene Schulzeit und den ausgelassenen, die eigene Lebendigkeit zu feiern. Als sich aber herausstellt, dass die Kids sich als Mutprobe unter vorbeirauschende Züge legen und das Unfallopfer vom ersten Schultag ein Leidensgenosse war, der allerdings nie bei den »Gleistreffen« dabei war – und deshalb nicht wusste, dass man sich parallel zwischen die Gleise legen muss statt quer darüber -, bekommt man erste dunkle Vorahnungen. Und man muss noch nicht einmal Russisch können, um bei einem (nicht untertitelten) Song im Soundtrack mehrfach ein Wort zu vernehmen, dass wie »suizidzu« klingt. Ich will nicht zu viel spoilern, aber es wird im Verlauf des Films noch weitaus unangenehmer…

Lenas Klasse (Iwan I. Twerdowskij)

Zu den inszenatorischen Prinzipien des Films gehören (gerade bei den Jugendlichen) viele Laiendarsteller, improvisierte Dialoge statt eines festen Drehbuchs und eine Handkamera, die immer »mittendrin« ist. Wenn Anton sich vom Zug überrollen lässt scheint der Kameramann dieses Erlebnis sogar mitzumachen. Allerdings ist sehr auffällig, dass in dieser Low-Budget-Produktion eben kein Carlo Di Palma (Husbands and Wives) oder ein Kameramann der Dardenne-Brüder als »operator« verpflichtet wurde, und so gibt es teilweise übelst verrissene und verwackelte Bilder. Wenn die Polizei mal wieder eine halbgare Razzia bei den Bahnschienen unternimmt, wirkt das manchmal noch semi-dokumentarisch, doch da die Wackelbilder oft in keinem ernstzunehmenden Verhältnis zu den Handlungen stehen, kann man die Handlung manchmal nicht ernst nehmen, und die Wackelbilder nerven nur. Mein liebstes Beispiel: Polizisten kommen, Lenas Rollstuhl hat im schlammigen Grasgelände keine Chance und Anton trägt sie kurzentschlossen. Dann kommt ein Schnitt und offenbar sind die beiden den Verfolgern (die nur so 10-15 Meter entfernt waren) entkommen. Natürlich hilft das dabei, dass sich die beiden näherkommen – aber den Film kann man in solchen Szenen (oder bei allem rund um die Rollstuhlrampe) nur schwer ernst nehmen.

Es gibt manche Elemente des Films, die einem mit geübten Auge als Anfängerfehler oder Budgeteinschränkungen auffallen. So besteht die Sonderklasse etwa aus 12 Schülern, es ist aber sehr auffällig, dass die Hälfte davon nur als Komparsen engagiert wurden. Sie bleiben immer hübsch im Hintergrund, entwickeln keine Konturen und man kann ihnen auch keine Namen oder gar Behinderungen zuordnen. Was für mich aber am ärgerlichsten an dem Film war (trotz vieler positiver Aspekte): ich wusste am Schluss nicht einmal ansatzweise, was der Film aussagen wollte. Denn wenn es darum gegangen wäre, wie unangemessen man in Russland etwa Behinderte zu »integrieren« versucht, dann wäre es durchaus von Vorteil gewesen, wenn sich zum Schluss des Films nicht ausgerechnet die Behinderten als (trotz aller Einschränkungen) schlimmste »Bösewichte« erweisen. Ich wollte sicherlich kein unrealistisches Happy-End, aber quasi zusammen mit Lena durch den Wolf gedreht werden und am Schluss wie ein menschlicher Fußabtreter zurückgelassen werden – für so ein Erlebnis mag ja nicht jeder auch noch Eintritt bezahlen …