Mr. Gaga
(Tomer Heymann)
Israel / Schweden / Deutschland / Niederlande 2015, Kamera: Itai Raziel, Schnitt: Alon Greenberg, Ido Mochrik, Ron Omer, Musik: Ishai Adar, Sounddesign: Alex Claude, mit Ohad Naharin, Tzofia Naharin, Eliav Naharin, Judith Brin Ingber, Mari Kajiwara, Gina Buntz, Sylvia Waters, David Tinchell, Yair Tamir, Eri & Noga Nakamura, Natalie Portman, 100 Min., Kinostart: 12. Mai 2016
Dokumentarfilmer Tomer Heymann (gewann 2006 mit Paper Dolls und dieses Jahr erneut für Who's gonna love me now? den Panorama-Publikumspreis) arbeitet gerne an mehreren Projekten gleichzeitig und kehrt auch schon mal zu Themen oder Personen zurück, mit denen er sich zu einem früheren Zeitpunkt beschäftigt hat. Auch über den israelischen Choreographen Ohad Naharin hat er schon mehrere kurze Filme gedreht. Aber diesmal gibt es den umfassenden Überblick über das Leben und Werk dieses obsessiven Perfektionisten.
Die Vorgehensweise ist größtenteils chronologisch (abgesehen von den kontextuell verordneten späteren Tanzaufführungen, die immer wieder die dezidiert persönlichen Inspirationen betonen). Zunächst werden die Eltern vorgestellt und es gibt Einblicke in die frühesten Anzeichen für die spätere Tanzbegeisterung. Super8-Material gibt es bis in die späten 1960er hinein (Naharin ist Jahrgang 1952), Fotos natürlich noch ältere. »I was the dancer in the family, in the class, in the school. But it was the present, it wasn't the future.«
Bildmaterial: © Gadi Dagon
Wie in vielen Biopics nutzt man auch in Mr. Gaga die äußeren Begleitumstände als Interpretationsansatz für das Werk. Aber wenn Naharin von seinen Kriegserfahrungen (Jom-Kippur-Krieg) mit traumatisierten Soldaten und zwei Wochen alten Leichen erzählt, so findet man dafür ausreichend Entsprechungen in seinen Tanzaufführungen.
Der Tanzstil »Gaga« (eine Verkürzung, weil Naharin es irgendwann leid war, immer seine »Bewegungssprache« in Worte zu fassen - laut seiner Mutter war »gaga« das erste »Wort«, das der kleine Ohad jemals sagte) zeichnet sich dadurch aus, dass der Tänzer nicht versucht, seinen Körper zu beherrschen, sondern den Körper zu Bewegungsabläufen zu animieren, die manchmal auch konkret gegen den eigenen Instinkt arbeiten. Dieses Prinzip wird sehr gut veranschaulicht in einigen Aufnahmen aus der Probephase, wenn die Tänzer hinfallen sollen, als würde ihnen »der Saft abgedreht«. Ganz logisch lassen sie sich dabei nicht einfach fallen, weil man sich ja dadurch Verletzungen zu ziehen könnte. Naharins Ansprüche sind aber so hoch, dass die Tänzer dieses »Fallen« immer wieder wiederholen müssen, bis man jenes »Gaga«-Moment erzielt, das nicht mehr wie eine durchkomponierte Geste aussieht, aber auch nicht zu Gehirnerschütterungen o.ä. führt.
Bildmaterial: © Gadi Dagon
Im Werk Naharins spielt unter anderem auch seine 2001 verstorbene Frau, Kollegin und Muse Mari Kajiwara eine große Rolle, die die Phase am Anfang seiner Karriere prägte, als er auf Geheiß einer amerikanischen Choreographin seine Tanzausbildung in der israelischen »Batsheva Dance Company« abbrach und Mitte der 1970er allein nach New York zog, um an der Julliard School und der »School of American Ballet« (teilweise gleichzeitig) weiterzumachen. Damals war er ein niemand und Mari bereits ein großer Star. Seine erste Solo-Choreographie (1980) trug den Titel Pas de Pepsi, was sich auf Maris suchtähnlichen Konsum des Cola-Getränks bezog.
Die Tanzaufnahmen sind natürlich das Glanzstück des Films, weil sie dem Medium sehr entgegen kommen und auch die Bühnenausstattungen Naharins teilweise äußerst cinematographisch wirken.
Bildmaterial: © Gadi Dagon
Die hohen Ansprüche an seine Tänzer (er kehrte später nach Israel zurück und wurde zum Leiter jener Company, an der er einst anfing) sind ein Kernpunkt des Films. »Almost on a daily basis someone left the studios because they were yelling or crying. But they all came back, because the work was worth it!« Dieser Anspruch an andere - aber auch an sich selbst führt auch zu Schlüsselszene des Films, die auch den Regisseur mehr als alles andere bewegt hat. Ich möchte dies hier nicht im Detail vorwegnehmen, aber es ist so, dass der Film gegen Ende ein wenig die Kohärenz und das Tempo verliert. Aber im Nachhinein wird es glasklar, dass die Montage Rücksicht nimmt auf die eher zufällig eingefangene Szene, die als Paukenschlag dem ganzen Film jene Intensität und jenen Ausdruck verleiht, den man für einen Moment verloren glaubte, weil einfach zu viele Teilaspekte von Naharins Schaffen »abgearbeitet« werden müssen und sich das Ganze zu zerfasern droht.
Bildmaterial: © Gadi Dagon
Aber der Film ist nicht nur für Tanzenthusiasten interessant, denn es geht letztlich auch um den Menschen. Naharin würde nicht nur am liebsten durch seine Ausdrucksform Nägel in den Bühne treiben, es geht auch um sein soziales Engagement, eine karriere-bedrohendes Aufbegehren gegen religiöse Zensur, das Thema Liebe (»It won't be the last time I fall in love with someone I work with«) oder die Frage, wie sich die nächste Generation an Ohad Naharin erinnern wird ...