Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




27. Juli 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Julieta (Pedro Almodóvar)


Julieta
(Pedro Almodóvar)

Spanien 2016, Buch: Pedro Almodóvar, Lit. Vorlage: Alice Munro, Kamera: Jean-Claude Larrieu, Schnitt: José Salcedo, Musik: Alberto Iglesias, Kostüme: Sonia Grande, Ausstattung: Antxón Gómez, mit Emma Suárez (Julieta), Adriana Ugarte (Julieta jung), Daniel Grao (Xoan), Inma Cuesta (Ava), Dario Grandinetti (Lorenzo), Rossy de Palma (Marian), Michelle Jenner (Beatriz), Pilar Castro (Claudia), Nathalie Poza (Juana), Susi Sánchez (Sara), Joaquin Notario (Samuel), Priscilla Delgado (Antía als Kind), Blanca Parés (Antía als Teenager), Sara Jiménez (Beatriz als Teenager), Tomás del Estal (Mann im Zug), 100 Min., Kinostart: 4. August 2016

Der neue Almodóvar basiert auf drei Kurzgeschichten der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro, die sich tatsächlich um die selbe Hauptfigur (dort: Juliet) drehen und zueinander in Beziehung stehen. Munro ist unter anderem dafür bekannt, die Chronologie ihrer Geschichten (sie schreibt nur Kurzgeschichten, keine Romane) ganz in den Dienst der zu erzählenden Geschichte zu stellen. Dies erkennt man auch in Julieta wieder, wo die Komplexität der drei zusammengeführten Geschichten schon durch die Besetzung der Titelfigur mit zwei unterschiedlich alten Darstellerinnen verdeutlicht wird.

Ich verzichte diesmal auf einen Versuch der Nacherzählung. Nur soviel sei zur Adaption verraten: die Kurzgeschichten bauen zwar aufeinander auf, stehen aber unabhängig nebeneinander. Im Film entsteht der Eindruck, dass die »finale Pointe«, also die aus Silence (ursprünglich sollte auch der Film Silencio heißen), die wichtigste ist. Rein menschlich und emotional mag das auch zutreffen, aber das bedeutet leider nicht, dass sie automatisch auch am besten funktioniert. Insbesondere auch, weil Almodóvar schon reichlich an den Geschichten herumdoktort. Ich sah zuerst den Film, las später die Vorlagen - und ich hätte vermutlich nicht damit gerechnet, dass die sich durchaus in den Vordergrund spielende Rahmenhandlung, von der aus die back story in einem immens literarisch wirkenden Brief entwickelt, die deutlichste Veränderung und Ergänzung darstellt.

Ich muss sagen, dass mich die Story im Film nicht wirklich vom Hocker riss, aber als ich sie dann noch mal in der ursprünglichen Fassung las, waren die interessantesten Aspekte all jene, die Almodóvar herausgekürzt hat. Ein abstruses Missverständnis auf einer Zugtoilette, ein religiöser Disput. Wenn man Munros Juliet-Geschichten mit Julieta vergleicht, entdeckt man zum einen zwei sehr unterschiedliche Frauen, wobei bei der von Kanada nach Spanien verlegten Fassung alles deutlich temperamentvoller (man könnte auch sagen »leidenschaftlicher«, aber das klingt dann gleich so, als ob es mir besser gefallen könnte) und melodramatischer ausfällt. Alice Munro ist die Meisterin der kleinen Zwischentöne, der Emotionen, die sich eher zwischen den Zeilen verbergen - bei Almodóvar ist alles eine ganze Ecke deutlicher ... und sexueller. Aber leider nicht besser.

Das war's größtenteils im Bereich Handlung von mir, ich richte nun meinen Augenmerk auf etwas anderes, muss aber zur Erläuterung noch ein paar leichte Spoiler einbringen.

Julieta (Pedro Almodóvar)

Bildmaterial: © Tobis Film/El Deseo Manolo Pavón

Wenn in Julieta die Geschichte durch eine zufällige Begegnung losgetreten wird (selbige findet in die Kurzgeschichten-Vorlage vier Seiten vor Schluss der letzten Story statt), fiel mir vor allem ein Schild »Einfahrt verboten« auf, dass so knallrot wirkte, dass ich davon ausgehen muss, dass man es für den Film extra mit einer Emailleschicht oder ähnlichem überzogen hatte. Mit den hierzulande üblichen Verkehrschildern und ihrer reflektierenden Oberfläche auf halbwegs stabilem Metall hatte dieser riesige Lolli jedenfalls nur wenig zu tun.

Da rot als Signalfarbe schon gleich zu Beginn des Films (ein samtener Faltenvorhang offenbart sich als Kleid, etwas sehr auf den Effekt hin inszeniert, wodurch die Situation unrealistisch wirkt) eingeführt wurde, achte ich jetzt auf diese Farbe. Knalliger Lippenstift, rote Turnschuhe, Almodóvar ist ja für seine intensiven Farben bekannt (am deutlichsten in Todo sobre mi madre, aber eigentlich nur selten verhalten oder dezent).

Julieta (Pedro Almodóvar)

Bildmaterial: © Tobis Film/El Deseo Manolo Pavón

Die ältere Julieta (Emma Suárez) hat sogar eine knallrote Wand in ihrer Wohnung, weshalb ich die Farbe schnell der Figur zuordnete. Im Gegenzug fällt mir ein blauer Briefumschlag auf. Als Julieta eine alte Wohnung aufsucht, trägt sie keinen roten Nagellack mehr, aber dafür hellblaue Turnschuhe. Blau und Rot scheinen die Farben dieses Films zu sein.

Jetzt gibt es einen Flashback, und die jüngere Julieta (Adriana Ugarte) wirkt mit ihrer Kurzhaarfrisur nicht nur wie ein Überbleibsel aus frühen Almodóvar-Filmen, sie trägt auch blaue Klamotten (inmitten eines rot eingerichteten Zuges). Sogar eine Art Notbremse wirkt hier wie ein knallroter »Buzzer« aus einer Quizshow.

Julieta (Pedro Almodóvar)

Bildmaterial: © Tobis Film/El Deseo Manolo Pavón

Um etwas vorzugreifen: Auch ohne konkrete Kenntnis darüber, wie sich der Film entwickeln wird, kam ich recht schnell zur Arbeitsthese, dass Blau im Leben der jungen Julieta eine wichtige Rolle spielt. Nicht zuletzt bekommt sie ein Kind von einem Fischer, der fast direkt am Meer (oder einer größeren Bucht) lebt und fischt, und das maritime Thema ist gemeinsam mit der Farbe blau in den Szenen mit der jungen Julieta sehr präsent. Im Gegenzug fiel mir auf, dass in den Szenen der Rahmenhandlung, in den Julieta ein paar Jahrzehnte älter ist, zum einen das Rot sehr präsent ist (das zieht sich aber durch den gesamten Film und alle Zeitebenen), zum anderen die Farbe Blau aber auffällig vermieden wird (zumindest in allen Bereichen, in denen Julieta die Farbauswahl aktiv selbst mitbestimmen kann). Offenbar muss am Meer etwas passiert sein, von dem sie sich nun distanziert oder an das sie nicht erinnert werden will.

Erst als die ältere Julieta ihre Vergangenheit aktiv erkundet, sie in einem Brief die alte Geschichte wiedererzählt oder sie jene alte Wohnung wiederaufsucht (wohlgemerkt, in hellblauen Schuhen, die eine zögerliche Rückkehr symbolisieren könnten - aber die Frage aufwerfen könnte, wo sie die Schuhe plötzlich her hat ... doch da ziehe ich mal den Frauentick für unzählige Schuhe als Ausrede heran).

Julieta (Pedro Almodóvar)

Bildmaterial: © Tobis Film/El Deseo Manolo Pavón

Meine These funktioniert bis auf wenige Momente den ganzen Film lang. Die junge Julieta hat mal eine Depressionsphase, durch die hindurch blau auch noch recht gut vertreten ist, und etwa zu der Zeit setzt auch die Szene ein, die die Staffelübergabe zwischen den beiden Darstellerinnen markiert und die es so aufs Plakat geschafft hat: die junge Julieta hat der Älteren gerade die Haare trockengerubbelt (im Film sieht man sie nicht zusammen, die Kamera schwenkt da nach oben), und auch die Farbauswahl auf dem Plakat passt super zu meinen Theorien: Das Bild ist quasi in zwei Hälften aufgeteilt: unten sieht man die ältere Julieta umgeben von einem dunkelroten Handtuch, darüber steht die jüngere und hält dieses Handtuch. Die gelbe Wand dahinter ist sehr auffällig, aber man sieht hinter dem Handtuch auch die blaue Schulter der Jüngeren hervorblitzen. Es sieht fast ein bisschen danach aus, als würde die jüngere das Handtuch benutzen, um der älteren den Blick auf ihre eigene Kleidung zu verbergen.

Interessanterweise findet man im Presseheft, in dem Almodóvar ausgiebig über Motive und Inspirationen plaudert (beispielsweise über all die kleinen Objekte, die er unbedingt in den Film einbringen wollte), auch ein kleines Kapitel über den Farbeinsatz, aber dort werden die selben Absichten der älteren Julieta mit der Farbe Weiß (für »Zurückhaltung«) erklärt. Zugegeben, ich erinnere mich auch an die eine Szene, wo eine Wand weiß gestrichen wird - aber die knallrote Wand ist doch weitaus auffälliger. Auch das Bild, mit dem man im Presseheft diese These illustriert, zeigt gar nicht so viel weiß, sondern vor allem einen sonnenbeschienenen Hintergrund der eher technisch aufgeweißt wurde (nicht für den Film, sondern für das Presseheft). Als ich das so las, hatte ich das Gefühl, dass dem Regisseur meine These womöglich zu offensichtlich erschien und er die Presse lieber durch eine nur im Ansatz überzeugende Weiß-Theorie davon ablenken will.

Julieta (Pedro Almodóvar)

Bildmaterial: © Tobis Film/El Deseo Manolo Pavón

In der allerletzten Szene des Films (die so bei der Munro-Vorlage komplett fehlt), habe ich übrigens (möglicherweise unpassend) sehr laut gelacht, weil man Julieta zwischendurch mehrfach in einem roten Auto sah - und sie nun Beifahrerin in einem blauen ist ... womit einen der Film in ein optimistisch "gefärbtes" Limbo entlässt.

Noch mal kurz zusammengefasst: Der Film an sich ließ mich etwas kalt, aber mit dem Blick auf die Farben war es für einen filmwissenschaftlich geprägten Betrachter ganz interessant. Falls ich den Streifen noch mal sehen würde, wäre mein Augenmerk womöglich auch auf das Weiß gerichtet, aber ich glaube nach wie vor, dass das nie so eindeutig eingesetzt ist wie meine Analyse.

Die Entsprechung zur farbdramaturgischen Aussparung findet man in der Munro-Geschichte Silence auch. Dort wird einen Absatz lang ein Zimmer beschrieben, in dem alles aufbewahrt wird, an was sich Juliet nicht mehr erinnern möchte. Der Absatz endet mit dem Satz »The door of that bedroom was shut and in time could be passed without disturbance.« Ich finde, in diesem einen Satz vermittelt die Autorin tiefere Emotionen als die Verfilmung zu irgendeinem Zeitpunkt. Aber dafür kann man halt in der Literatur nicht so schön mit Farbdramaturgie herumspielen. Insbesondere mit dem Fehlen einer Farbe.