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21. September 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Hedis Hochzeit (Mohammed Ben Attia)


Hedis Hochzeit
(Mohammed Ben Attia)

Originaltitel: Inhebbek Hedi, Tunesien / Belgien / Frankreich / Katar / Vereinigte Arabische Emirate 2016, Buch: Mohammed Ben Attia, Kamera: Frédéric Noirhomme, Schnitt: Azza Chaabouni, Ghalya Lacroix, Hafedh Laaridhi, Musik: Omar Aloulou, Kostüme: Nedra Gribaa, Production Design: Mohamed Denguezli, mit Majd Mastoura (Hedi), Rym Ben Messaoud (Rim), Sabah Bouzouita (Baya), Hakim Boumessoudi (Ahmed), Omnia Ben Ghali (Khedija), 88 Min., Kinostart: 22. September 2016

Hedi (Majd Mastoura) ist ein schüchterner 25jähriger Tunesier, der ganz unter der Fuchtel seiner Mutter steht. Diese schwärmt ihm immer wieder von seinem größeren Bruder Ahmed vor, der in Frankreich eine Familie gegründet hat, während Hedi unselbstständig und ambitionslos auf der Stelle steht. Dass er zumindest einen Vertreterjob bei Peugeot hat, wurde vermutlich von irgendjemandem anderen eingefädelt. Man will ja nur »sein Bestes« und ihn unterstützen, zum Beispiel auch dadurch, dass die Mutter seine Einkünfte verwaltet und ihm ein »Taschengeld« reicht - weil er nicht in der Lage wäre, mit Geld umzugehen. Einen Streifen am Horizont gibt es immerhin, den Hedis Hochzeit steht bevor - und er und seine Braut Khedija sind sich auch nicht unsympathisch. Auch wenn die nächtlichen Treffen in seinem Peugeot, die romantischen Kurznachrichten und ein paar Küsschen hier und da nicht unbedingt von großer Leidenschaft zeugen... Dass die Verbindung durch die Eltern angebahnt wurde, muss man kaum mehr erwähnen.

Hedis Hochzeit (Mohammed Ben Attia)

Verleih: Arsenal

Wenige Tage vor der Hochzeit gibt es aber Probleme mit Hedis Boss. Der weigert sich, ihm für die Flitterwochen Urlaub zu geben und versetzt ihn kurzerhand zum Kundendienst nach Mahdia, abseits des schützenden Einflusses seiner Mutter. Und als Zuschauer erlebt man jetzt, wie eingeschränkt lebensfähig Hedi ist, der bei Kundengesprächen keinerlei Durchsetzungsvermögen entwickelt und höchstens mal die »Erlaubnis« erhält, seine Visitenkarte dazulassen. Man ahnt im Grunde, dass alles eher schlimmer als besser werden wird... insbesondere, weil Hedi inzwischen seinem Boss irgendwas vorlügt und lieber den Nachmittag am Strand verbringt - für seine Umsatzzahlen macht das ohnehin keinen Unterschied.

Hedis Hochzeit (Mohammed Ben Attia)

Verleih: Arsenal

Während die Mutter mit dem rückgekehrten Bruder die Hochzeit vorbereitet - Ahmed schlägt sogar eine leitende Position für Hedi beim zukünftigen Schwiegervater heraus - lässt sich Hedi auf einen Urlaubsflirt (wohlgemerkt ohne Urlaub) mit der Animateurin Rim (Rym Ben Messaoud) ein. Hierbei fällt am deutlichsten auf, dass man im tunesischen Kino durchaus auch mehr an Geschlechterverbindung zeigen kann als ein paar zögerliche Küsschen links und rechts. Was Hedi aber mit Rim verbindet, ist keine bloße Fleischeslust - die beiden reden auch miteinander. Und zwar nicht nur über märchenhafte Zukunftspläne und einen aufrecht zu erhaltenen Schein für die Öffentlichkeit, sondern über die Dinge, die sie wirklich bewegen. Rims berufliche Situation klingt zunächst traumhaft: sie reist in ferne Länder (Montpellier, Italien), lebt quasi dauernde Ferien. Doch anhand der leeren Hotelkorridore des einst vor allem bei deutschen Touristen beliebten Mahdia erkennt man, wie die Branche stagniert.

Hedis Hochzeit (Mohammed Ben Attia)

Verleih: Arsenal

Glaubst Du, ich bin glücklich darüber, mit 30 vor Touristen zu tanzen? Aber ich schäme mich nicht!

Rim ist auch die erste, die Interesse an Hedi heimlichem Talent zeigt: Er zeichnet nebenbei an einem Comic-Projekt. Sie ist beeindruckt - alle anderen haben seine Neigung zum Zeichnen nur ignoriert oder sich darüber lächerlich gemacht. Die beiden könnten sogar zusammen »durchbrennen« (auch, wenn sie nicht mehr so ungestüm wirken), denn Rim muss sowieso nach Montpellier - und Hedi hatte ja für seine Hochzeitsreise ein Visum angefordert. Aber von seiner bevorstehenden Hochzeit hat Hedi seinem »Schatz« trotz lauter Offenheit noch nicht erzählt - das könnte problematisch sein... Und Mutter und Bruder sind auch schon auf dem Weg, ihn abzuholen, weil er sich in der Heimat auffällig rar gemacht hat.

Inhebbek Hedi erzählt nicht nur von einer Liebe, von einem verspäteten Coming-of-Age, es geht auch um die Ziellosigkeit einer ganzen Generation nach dem arabischen Frühling. Um den fehlenden Enthusiasmus, den man für die überschaubaren Aufstiegschancen aufbringen mag, während die ältere Generation ob der Umwälzungen und weiterhin gepflegten Traditionen gar nicht verstehen kann, warum jemand wie Hedi sich nicht auf Knien bedankt, dass er jeden Morgen seinen Schlips umbinden darf und an der vordersten Front des Kapitalismus eingreifen darf.

Hedis Hochzeit (Mohammed Ben Attia)

Verleih: Arsenal

Dass beispielsweise Hedis Zeichentalent nicht gleich zum Nonplusultra der Meinungsfreiheit aufgebauscht wird (vgl. Raving Iran) und seine amourösen Ambitionen sich auch eher in Grenzen halten, macht den langsam erzählten Film irgendwie sehr sympathisch, verleiht ihm statt aufgesetzten Optimismus eine bodenständige Authentizität, die an die mitproduzierenden Dardenne-Brüder erinnert (insbesondere ihre frühen Filme). Im von Eskapismus geprägten Kinobusiness ist es ein Labsal, auch mal solche »kleine Fluchten« zu betrachten, die nicht alle Probleme artig sortieren und glattbügeln - noch dazu aus exotischen Produktionsländern. Nach der Auszeichnung bei der Berlinale für den besten Debütfilm kann man gespannt sein auf den nächsten Film von Mohammed Ben Attia. Ob Hedi-Darsteller Majd Mastoura als Gewinner des Silbernen Bären nun eine Schauspielkarriere vorantreiben wird, kann man sich indes schwerer vorstellen - weil er seinen Job so gut gemacht hat und man irgendwie glaubt, Majd sei so phlegmatisch und unentschlossen wie Hedi (ein bisschen wie Hamlet, aber ohne die Todesfälle und die langen Monologe) ... aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren ...