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26. Oktober 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die Wildente (Simon Stone)


Die Wildente
(Simon Stone)

Dt. Titel: Die Wildente, Australien 2015, Buch: Simon Stone, Lit. Vorlage: Hendrik Ibsen, Kamera: Andrew Commis, Schnitt: Veronika Jenet, Musik: Mark Bradshaw, mit Paul Schneider (Christian), Ewen Leslie (Oliver), Odessa Young (Hedvig), Geoffrey Rush (Henry), Sam Neill (Walter), Miranda Otto (Charlotte), Anna Torv (Anna), Wilson Moore (Adam), 96 Min., Kinostart: 27. Oktober 2016

Norwegen und Australien sind Staaten, die nur selten verwechselt werden, aber die ersten Szene von Simon Stones Ibsen-Adaption The Daughter versucht, dem Original besonders nahe zu sein. Eine nebelverhangene Landschaft, zwei Schüsse, Gequacke und eine verletzte nasse Ente im Dickicht: Man nutzt eine deutlich filmische Schnitt-Technik und eine Location, die weit weg von einer Theaterbühne ist, aber zumindest die (deutliche!) zeitliche wie örtliche Veränderung des Stoffs fällt nicht sofort auf.

Sogar eine hier als Jagdhelfer auftretende Person (»Put that thing out of its misery, will you, Peterson?«) scheint exakt dem Diener, der in Ibsens Stück die ersten Worte spricht, zu entsprechen (auch, wenn er dort Pettersen heißt). Für Ibsen-Fans schafft man einen sofortigen Wiedererkennungswert, der aber nicht lange vorhalten wird. Denn in Australien heißt man im Normalfall nicht Gregers Werle oder Hjalmar Ekdal, und so benutzt der Filmemacher andere, passendere Namen, die man aber größtenteils ohne Probleme sofort zuordnen kann. Nur die durch die Titelveränderung ins Zentrum gestellte Hedvig behält ihren Ibsen-Namen, wirkt aber ansonsten am deutlichsten überarbeitet (auch visuell: hier mit Nasenring und rosa Strähnen).

Die Wildente (Simon Stone)

Arsenal Filmverleih

Im Gegensatz zu modernen Hamlet-Adaptionen, in denen aus dem dänischen Königshaus meist irgendeine Fabrik oder ein Konzern wird, überspielt Stone aber das übersprungene 20. Jahrhundert zwischen Ursprungsstoff und aktueller Fassung, indem er für die Klarstellung der Klassenunterschiede, die man nicht ohne weiteres aus dem Stück herausstreichen kann, ein Sägewerk wählt. Der reiche Besitzer Henry (Geoffrey Rush), den wir bei der Entenjagd kennenlernen, entscheidet aber wie ein Monarch über Gedeih und Verderb der Region, und stürzt die Arbeitersiedlung durch seine Schließung des Sägewerks in eine deutliche Rezession, während er sich um die Hochzeit mit einer deutlichen jüngeren Frau (»She could be your daughter!«) kümmert, die ebenfalls an shakespearesche Königshäuser erinnert, die so bei Ibsen natürlich gar nicht gegeben sind - weil der seinerzeit der Modernisator war, dem Michael Almereyda oder Aki Kaurismäki den offensichtlichsten Trick bei ihren Shakespeare-Versionen abschauten.

Die Wildente (Simon Stone)

Arsenal Filmverleih

Stone hält sich recht gewissenhaft an die ibsensche Grundstimmung. Vildanden (so heißt das Stück im Original) ist eine Tragödie, bei der man einigermaßen entsetzt zuschaut, wie es immer dicker kommt und statt aufklärender Gespräche zumeist Missverständnisse folgen, die alles nur noch schlimmer machen.

»The Daughter« Hedvig (Odessa Young) ist bei Stone aber keine schüchterne, leicht verhuschte, folgsame Tochter, wie sie 1870 in Norwegen geboren sein mag, sondern ein echtes Kind des 21. Jahrhunderts, so aufsässig und sexuell experimentierfreudig, wie man heutzutage eben ist, wenn der 16. Geburtstag bevorsteht. Die Fallhöhe ändert sich dadurch aber nicht, ganz im Gegenteil, dadurch, dass Hedvig hier nicht nur ein so unschuldiges wie kostbares Töchterlein ist, das aus heutiger Sicht eher wie eine 12jährige wirkt, sondern eine Figur, der man ein erweitertes Innenleben und einen etwas neben der Spur wandelnden Freund zugesteht, wirkt sie wie ein Mensch und nicht nur wie ein literarisches Stilmittel, das über den Theaterboden wandeln darf. Und dadurch wird Ibsen, der trotz seiner ungebrochenen Popularität als Theaterstoff immer auch den Geruch angestaubter schwarzer Taläre mit sich bringt, wieder etwas spannender. Nicht zuletzt auch in dem (in Deutschland durch den »zurückgeänderten« Filmtitel einigermaßen zunichte gemachten) Fall, dass man als Kinogänger vielleicht gar nicht weiß, dass man einem uralten Stoff beiwohnt. The Daughter könnte nämlich mit einigen Einschränkungen (es geht letztlich eben doch um die erwachsenen Figuren und deren psychologischen Ballast) durchaus als Coming-of-Age-Drama für ein jüngeres Publikum durchgehen. Vielleicht dreht irgendwann jemand eine Version des Stoffs, in dem wir alles aus der Sicht der Tochter erleben und nicht die Erwachsenen schon durch ihre prominente Besetzung (neben Geoffrey Rush Sam Neill und Miranda Otto, also mit die bekanntesten Darsteller aus der Gegend und der Generation) mehr Beachtung finden.

Die Wildente (Simon Stone)

Arsenal Filmverleih

Hier und da wirkt die Modernisierung etwas zu fett aufgetragen (»Love is a Battlefield« gehört nicht unbedingt zum Standard-Repertoire von Hochzeitsbands), aber eine Ibsen-Verfilmung, bei der man u.a. an Ronette Pulaski aus Twin Peaks erinnert wird, und ein Debütfilm eines Theaterregisseurs, der mit filmischen Mitteln clever und einigermaßen subtil umgeht - als hätte er jahrzehntelang nichts anderes gemacht - sind definitiv positive Kriterien.

Außerdem mag ich Literaturverfilmungen, bei denen man danach unbedingt wissen will, was alles geändert wurde und was gleich blieb. Davon gibt es aktuell zwar einigermaßen viele (Julieta, Tschick, Das kalte Herz, Arrival, American Pastoral, Love & Friendship) und ich komme fast mit dem Lesen nicht mehr hinterher, aber man wird es definitiv nicht erleben, dass ich mich über den »Überfluss« interessanter Filme beschwere. In den folgenden Wochen wirkt das Verhältnis zwischen Sehenswertem und Überflüssigem (im herkömmlichen Wortsinn) rekordverdächtig gut...