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30. November 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Sully (Clint Eastwood)


Sully
(Clint Eastwood)

USA 2016, Buch: Todd Komarnicki, Vorlage: Chesley Sullenberger, Jeff Zaslow, Kamera: Tom Stern, Schnitt: Blu Murray, Musik: Christian Jacob & The Tierney Sutton Band, mit Tom Hanks (Chesley »Sully« Sullenberger), Aaron Eckhardt (Jeff Skiles), Laura Linney (Lorrie Sullenberger), Mike O'Malley (Charles Porter), Jamey Sheridan (Ben Edwards), Anna Gun (Elizabeth Davis), Tracee Chimo (Evelyn May), Jane Gabbert (Sheila Dale), Ann Cusack (Donna Dent), Molly Hagan (Doreen Welsh), Valerie Mahaffey (Diane Higgins), Delphi Harrington (Lucille Palmer), Blake Jones (Sully mit 16), Michael Rapaport (Bartender Pete), Ashley Austin Morris (Emily), Katie Couric (Herself), Kinostart: 1. Dezember 2016

Jetzt ist ja wieder die Zeit der Jahresrückblick-Shows, wo man neben diversen Olympiagewinnern wieder auf die »Helden des Alltags« treffen wird, an die man sich teilweise bereits schon nicht mehr erinnert. Ein Ereignis, das auch nach fast acht Jahren noch einigermaßen gegenwärtig ist, ist die Notlandung (»It's not a crash - it was a forced water landing!«) eines Passagierflugzeugs mit Triebwerkschaden, das am 15. Januar 2008 schon kurz nach dem Start vom Flughafen La Guardia auf dem New Yorker Hudson River Anlass für spektakuläres Film- und Fotomaterial abgab, während die 150 Passagiere und fünf Crewmitglieder alle wohlbehalten von den Tragflächen oder teilweise im eiskalten Wasser schwimmend aufgeklaubt wurden.

Der Name des Piloten war Chesley Sullenberger, und diesen »Sully« spielt jetzt Tom Hanks, der mit Titeln aus seiner Filmographie sogar die Geschichte seines neuen Films in Kurzfassung nacherzählen kann: The Terminal, Splash. So weit jedenfalls der weithin bekannte Teil der Geschichte. In Hanks erster Zusammenarbeit mit Regisseur Clint Eastwood geht es um die weniger bekannte Geschichte abseits der Fernsehinterviews, wenn der NTSB (National Transportation Safety Board) anzweifelt, ob die kostspielige Landung überhaupt notwendig war, denn Experten und Simulationen haben ergeben, dass Sully es noch bis zu mehreren Landebahnen auf New Yorker Flughäfen hätte schaffen können.

Sully (Clint Eastwood)

© 2016 Warner Bros. Entertainment Inc., Village Roadshow Films (BVI) Limited and Ratpac-Dune Entertainment LLC

Eastwood und sein eingespieltes Team (im Presseheft werden die Zusammenarbeit mit Kameramann Tom Stern, Cutter Blu Murray, dem Production Designer oder der Kostümdesignerin bevorzugt in Jahrzehnten angegeben, nach dem Motto »Dreißig Jahre? Pah, ich hab' schon vierzig!!«) erzählen die Geschichte in bewährt schnörkelloser Weise, wobei man die Grundstruktur des Drehbuchs, das häufiger in der Chronologie vor- und zurückspringt als Pulp Fiction, noch am ehesten als »auffällig« beschreiben könnte. Aber als Zuschauer weiß man jederzeit, welcher Teil der Geschichte gerade erzählt wird (die wichtigsten 208 Sekunden natürlich mehrfach) und die beiden Flashbacks in Sullys Vergangenheit sind durchaus notwendig, damit man mehr über seinen persönlichen Fliegerhintergrund erfährt: einmal während seiner Ausbildung, einmal bei einer bewältigten Krise.

Für meinen Geschmack ist der Film eine ganze Ecke zu »stromlinienförmig«, oder - um wenn den Flugmetaphern wegzukommen - »gefällig«. Die spannendsten Stellen sind für mich die, wo man mal kurzfristig das Gefühl hat, der Realität etwas näherzukommen. So wirken die ersten Aufnahmen der Passagiere von Flug 1549 auf mich äußerst harmonisch (Komparsen sind eben professionell in ihrem Umgang), und wenn man etwas später mal eine junge Frau sieht, die in unvorteilhafter Gesichtshaltung (mit offenem Mund) ein Blitznickerchen an der Außenwand zu halten scheint, so hat das eine Spur von Authentizität.

Dummerweise sind das jetzt natürlich Details, die Pilot Sullenberger (bei der realen Figur benutze ich zur Unterscheidung den vollen Nachnamen), der zusammen mit einem Journalisten das Buch zum Absturz schrieb, gar nicht gesehen haben kann. Aber vielleicht hat er später bei seinen Stewardessen Donna, Sheila oder Doreen angerufen und die gefragt, wie die Passagiere an dem Tag so drauf waren. Und wenn man dann noch ein einjähriges Kind an Bord hat, das wie in einem traditionellen Katastrophenfilm einen kleine Nebenhandlung abgibt - um so besser!

Sully (Clint Eastwood)

© 2016 Warner Bros. Entertainment Inc., Village Roadshow Films (BVI) Limited and Ratpac-Dune Entertainment LLC

Aus unerfindlichen Gründen interessiert mich bei diesem Film sehr die »wahre« Geschichte dahinter. Wenn Sullenberger mit seinem Co-Autor ein Buch über seine Erfahrungen schreibt, setzt ja eine erste Fiktionalisierung ein, und der Job des Drehbuchautors Todd Komarnicki besteht ja auch darin, einen mitreißenden Film zu schaffen und kein exaktes Flugprotokoll. Und so hat man eine schwer zu bemessende Verzerrung durch Dramatisierung und Heroisierung.

Das soll jetzt nicht bedeuten, dass ich Sullenberger unterstelle, er würde sich absichtlich besser darstellen, aber die Erinnerung ist eben ein eher ungenaues Werkzeug und insbesondere der Tag nach der Landung wirkte auf mich im Film mitunter seltsam. So erlebt man mehrfach eine deutliche Geistesabwesenheit Sullys. Beim Joggen wird er fast angefahren, er spielt Teile des Unglücks immer mal wieder mental durch (das wissen wir als Zuschauer unter anderem durch Träume und Halluzinationen, die man in spektakuläre Filmsequenzen verwandeln kann). Hanks wirkt also zerstreut, körperlich beansprucht - aber seine Figur bringt gleichzeitig perfekt artikulierte und durchdachte Statements hervor. Die auf mich entweder wie nachträglich rückwärtig eingebaute Sätze Sullenbergers oder eben Drehbuchsätze wirken. Auf dem Talkshow-Circuit oder bei der Anhörung wären solche Sätze vollkommen in Ordnung, aber hier stören sie meiner Meinung nach einfach das Bild des durchaus traumatisierten Piloten, der sich erst fangen muss und eine neue Zielsetzung entwickeln muss, die er dann umso konzentrierter durchsetzen kann. Aber ich war an dem Tag auch nicht mit Sullenberger unterwegs, womöglich ist der halt so drauf.

Ein Satz, der mir ungeachtet der vorhergehenden Gedanken sauer aufstieß, war übrigens »I've got 40 years in the air, but in the end I'm gonna be judged on 208 seconds.« Hier ist es übrigens reiner Zufall (und nicht journalistische Expertise), dass ich das Jahrzehnte-Thema schon zuvor im Text ansprach.

40 Jahre in der Luft? Das wage ich anzuzweifeln, denn bei diesen 40 Jahren sind natürlich auch seine freien Wochenenden, ausgedehnte Toilettensitzungen oder die täglichen Stunden Schlaf mit einberechnet, wodurch der ganze Vergleich nicht funktioniert und auch ein typisches Beispiel für einen Drehbuchsatz abgibt, der es auch in viele Trailer schaffen wird.

Sully (Clint Eastwood)

© 2016 Warner Bros. Entertainment Inc., Village Roadshow Films (BVI) Limited and Ratpac-Dune Entertainment LLC

Kommen wir aber zurück zum eigentlichen Film. Der ist, wie schon gesagt, gut durchdacht, nur halt - gerade beim Abschluss - viel zu gefällig. Wobei sich Sullenberger und Eastwood jetzt damit herausreden können, das es »aber genau so gewesen ist«. Die Gremien bei der Anhörung haben irgendwann ihre eigenen Fehler erkannt und zugegeben, die erste »Live-Simulation« hat man abgebrochen, die zweite etwas länger gezeigt (was aus der Sicht dessen, der die Übertragung abbrechen kann, ziemlich unzulässig und kontraproduktiv wäre) und so weiter.

Ich habe also eine »innere Sperrung« gegen bestimmte Details, kann aber keinem ein grobes Vergehen nachweisen. Jetzt mal abgesehen von der Hose, mit der Sully bis zu den Oberschenkeln durchs kalte Hudson-Wasser stapft, das sich mittlerweile im Passagiergang angefunden hat - und gefühlt eine halbe Minute später sieht man diverse Einstellungen, bei der Tom Hanks' Wohlbefinden halt eine höhere Priorität hatte als die continuity.

Man könnte jetzt ja sagen »im Zweifelsfall für den Angeklagten«, aber ich kann nur soweit gehen, jeden Zuschauer selbst entscheiden zu lassen, ob ihm Sully als ein großes Stück Kino vorkommt (Apollo 13 hat damals auch die Massen begeistert, während ich den reichlich überschätzt fand) oder eher wie ein routiniert runtergekurbeltes Stück vermeintlicher »Perfektion«, die aber irgendwie an der eigenen Gefälligkeit zu zerbrechen droht.

Sully (Clint Eastwood)

© 2016 Warner Bros. Entertainment Inc., Village Roadshow Films (BVI) Limited and Ratpac-Dune Entertainment LLC

Ein Aspekt, der mir persönlich sauer aufstieß, aber halt zu Clint Eastwood und dem Thema des Films dazugehört, ist eine Texteinblendung am Schluss: »The best of New York came to save them. It took them 24 minutes.« Und schon sind wir wieder bei den Helden des Alltags, die nirgendwo mehr abgefeiert werden als in New York. Mit der Beschreibung einer durchaus »amerikanischen« Szene, die mir aber irgendwie sogar gefallen hat, will ich meinen Text enden lassen.

Irgendwo in der zweiten Hälfte des Films gibt es mal eine Szene, bei der das drohende viel größere Unglück eines Triebwerkausfalls über New York thematisiert wird. Fernab von den Erfahrungen Sullenbergers sehen wir unter anderem, wie irgendwo in der Chefetage eines Wolkenkratzers jemand während eines Meetings aus dem Fenster schaut und Sullys Flugzeug sehr nahe an anderen Hochhäuser vorbeirauschen sieht. Das sind natürlich Momente, die sofort 9-11 zurückbringen - und im Film sieht man auch mal Sully selbst, wie er aus einem ähnlich hohen Panorama-Fenster heraus den Absturz seiner Maschine imaginiert. Das Perfide an dem akkurat gekleideten Manager-Typen, der den diesmal guten Ausgang eines Dramas beobachtet, wie es die letzten anderthalb Jahrzehnte verdunkelt und verändert hat wie kaum etwas seit dem zweiten Weltkrieg: dieser Herr, der schon durch die Situation stellvertretend für New York und ganz Amerika wirkt - der sieht auch noch aus wie Obama!

Und an der Stelle wüsste ich natürlich gern, wie er im Drehbuch beschrieben wurde - oder ob Eastwood beim Casting diesen Geistesblitz hatte, der zwar politisch manipulativ wirkt, aber für mich dennoch das Interessanteste an dem Film ist.