Zwischen den Stühlen
(Jakob Schmidt)
Deutschland 2016, Buch: Jakob Schmidt, Kamera: David Schittek, Evgeny Revvo, Jakob Schmidt, Schnitt: Julia Wiedwald, Musik: Andreas Bick, mit Ralf, Katja, Anna (Nachnamen im Film etwas versteckt, aber hör- bzw. sichtbar), 102 Min., Kinostart: 18. Mai 2017
Als penibler Purist im Bereich Dokumentarfilm habe ich herausgefunden, dass mir Dokus mit einer gewissen Konkurrenz-Situation, in der sich die Protagonisten finden, überdurchschnittlich zusagen. Manche dieser Filme erinnern formal oder sogar dramaturgisch an Casting-Shows, aber interessanter ist für mich dabei, dass diese Filme tatsächlich nach dem Dokumentarfilmprinzip funktionieren, das mich am stärksten anspricht: Man entwickelt ein gewisses Grundkonzept, filmt dann fleißig und bastelt anschließend was aus dem zusammengekommenen Material. Das sind für mich die Eckpfeiler der Kunstform Dokumentarfilm, in der es für mich vor allem um Montage-Entscheidungen geht und nicht um eine bereits im Vorfeld getroffene Entscheidung (Fleisch essen ist ungesund), die dann nur durch schon in der Vorauswahl gefärbte Interviewpartner »bebildert« wird. Oder solche Filme, in denen erstaunlich viel inszeniert wird und man davon ausgeht, dass das Publikum darüber nicht im geringsten reflektiert.
In den letzten Jahren sah ich somit Filme über Schauspielstudenten (super: Die Prüfung!) oder angehende Dirigenten, die an einer elitären Hochschule angenommen werden wollen, einen Jungen, der Synchronschwimmer werden will - oder zwei Filme der Australierin Kitty Green, in denen das Wort »Casting« sogar schon im Titel auftaucht (obwohl es hier gar nicht vorrangig um die Konkurrenzsituation geht). Und bis auf eine Ausnahme haben die mir alle ausnehmend gefallen.
Zwischen den Stühlen begleitet drei angehende LehrerInnen durch ihr Referendariat, eine Situation, in der sie gleichzeitig benoten sollen und benotet werden, was potentiell die Probleme unseres Schulsystems gut herausarbeitet.
© Weltkino
Das Presseheft ist prall gefüllt mit Hintergrundinfos wie dem Detail, dass man 600 Lehrerkandidaten dem offiziellen »Auswahlschreiben der Seminare« eine Vorstellung des Filmprojekts mit dem Angebot, Protagonist zu werden beilegte und sich auch schnell 25 Interessierte zurückmelden, von denen man dann letztlich fünf (allesamt persönlich an der Bildungssituation interessiert) auswählte, die über einen Zeitraum von drei Jahren (nicht alle Referendariate begannen zur selben Zeit) begleitet und dann aus 300 Std. Material die drei Protagonisten auswählte.
Von all dem merkt man im Film, der bis auf einige Schrifttafeln am Schluss nichts kommentiert, nichts.
Was mich persönlich sehr an dem Film ansprach, ist, dass es nicht nur um wichtige Themen wie die Zukunft der Bildung geht (Prädikat »besonders wertvoll«, gleich vier Auszeichnungen beim Dokfest Leipzig), sondern der Film auch sehr unterhaltsam ist und man den drei Lehrers wirklich recht nahe kommt. Nicht nur im Klassenzimmer und im Gespräch mit Seminarleitern, auch im Interview oder im heimischen Umfeld (in dem Kinder auch eine Rolle spielen).
Es wirkt wie von langer Hand vorbereitet, dass die drei »AnwärterInnen« auf drei sehr unterschiedliche Schulen verteilt sind. Ralf, der Ambitionierteste der drei, der sich aber dadurch auszeichnet, dass er selbst mit der Schule seinerzeit fast nichts anfangen konnte, landet ausgerechnet auf dem Gymnasium, dass er selbst mal frequentierte, und will sich dort beweisen. Katja fängt in einer gefürchteten Gesamtschule an (laut Presseheft nutzte sie das Filmprojekt auch dazu, sich selbst unter Druck zu stellen, um »in der Öffentlichkeit« stärker gegen das Scheitern anzukämpfen), und Anna, die am verletzlichsten wirkt, sucht sich an einer Grundschule auch die kleinsten Zöglinge aus.
© Weltkino
Der Film beginnt mit der Vereidigung (sehr schön: ein in einem Sektglas ertrinkendes »Bienchen«, das man schon als Kommentar deuten kann) und steigt dann im Fall Ralfs gleich bei der ersten Stunde ein. »Komplett alleine. Sie dürfen ein Handy mitnehmen, aber bitte keine Waffe. das machen wir hier nicht.«
Katja kämpft gegen die sehr laute Klassenatmo an, und ich glaube, sie ist es auch, die im Interview davon spricht, dass man »nie schwimmen gelernt hat und dann ins tiefe Wasser geschubst wird, wo man strampeln muss, um sich über Wasser zu halten«. Davon kann das Insekt im Sektglas ein Lied summen! (auch, wenn mir die Querverbindung erst im Nachhinein auffällt - aber das ist es, was ich an Dokus mag...)
© Weltkino
Anna (»Ich bin kein Machtmensch«) ist am deutlichsten überfordert und mag keine Rotstifte. Mal ganz abgesehen davon, dass sie mit ihrer Klasse eher singt oder »Stille Post« spielt, widerstrebt es ihr, nur eine Zahl unter ein Arbeitsblatt zu schreiben. Sie fügt immer auch einen kleinen Satz dazu, gibt aber zu, dass die Kinder sich dafür überhaupt nicht interessieren. Einmal sieht man sie, wie sie liebvoll einen Schüler trösten will, ein anderes mal wird vor ihren Augen ein Junge von einem Mädchen geschlagen und sie lächelt nur etwas hilflos. Ihre Seminarleiterin warnt sie davor, das »Hatscherl« zu sein, das sich versteckt, weil es noch in der Ausbildung steckt.
Man will ja nicht zu viel spoilern, aber wer hier am härtesten durchgreift, hat in der doppelten Benotungssituation auch die besten Karten. Ralf, der der Klasse ankündigt »Es wird blaue Briefe regnen!«, ist auch der Meinung, dass »die schlechte Note die pädagogischere ist«, während Anna Gnade walten lässt, aber deshalb im Umkehrschluss selbst keine erfahren muss.
© Weltkino
Am schönsten ist der Film, wenn die »halben Lehrer« den mitunter nur ein Jahrzehnt jüngeren Schülern besonders gleichen, beim Seminartreffen wegen Tuschelns ermahnt werden oder sich vor dem Elternabend »Mut antrinken«, was man sich als Schüler wohl nie im Leben hätte vorgestellt, weil man selbst die Hose gestrichen voll hatte, was die Lehrkraft wohl den Eltern stecken wird, was zu meiner Schulzeit nicht unbedingt immer in pädagogisch umgesetzte konstruktive Hilfeleistung umgesetzt wurde... klatsch!
Wenn in einer Montagesequenz, die die strikte Dreiteilung des Films auflockert, die Musik mal ein bisschen nervig ist, so unterstützt sie dennoch die Dramaturgie, für den Langfilmerstling eines Studenten der HFF Konrad Wolf (Schmidt outet sich übrigens selbst als »Lehrerkind«) funktioniert in diesem Film vieles erstaunlich gut, es wird einem keine Botschaft eingehämmert, sondern man kann die Erkenntnisse selbst entnehmen. Und gerade die Details zeugen davon, dass hier kein Programm durchgezogen wird, sondern man sich noch die Zeit nimmt, am Rande Dinge zu entdecken. Das Hamsterrad im Käfig im Schulflur wirkt fast schon zynisch, die Gymnasiasten quälen sich dazu passend mit Hermann Hesses Unterm Rad.
Durchaus irgendwie interessant ist auch, dass Gymnasial-Deutschlehrer Ralf die B.Z. liest, aus der später ein Schüler eine Schlagzeile vorliest: »1381 Lehrer dauerkrank bei vollen Bezügen.«
Am eindrücklichsten in Erinnerung bleibt bei mir neben Anna, die Menschlichkeit und Verletzlichkeit als Lehrertugenden auffasst, Katja, wie sie vor einer Glaswand steht, gegen die von außen Schüler Schneebälle werfen. »Wie soll das gehen, wenn ich das 35 Jahre lang machen soll …?«