Die Reifeprüfung
(Mike Nichols)
Originaltitel: The Graduate, USA 1967, Buch: Calder Willingham, Buck Henry, Lit. Vorlage: Charles Webb, Kamera: Robert Surtees, Schnitt: Sam O'Steen, Musik: Dave Grusin, Songs: Simon & Garfunkel, mit Dustin Hoffman (Benjamin Braddock), Anne Bancroft (Mrs. Robinson), Katherine Ross (Elaine Robinson), William Daniels (Mr. Braddock), Elizabeth Wilson (Mrs. Braddock), Murray Hamilton (Mr. Robinson), Brian Avery (Carl Smith), Walter Brooke (Mr. Maguire), Buck Henry (Sekretär), Richard Dreyfuss (Dorm Student), Westdt. Original-Kinostart: 6. September 1968, Wiederaufführung in 4K: 3. August 2017
Anfang der 1980er begann ich mich zunehmend fürs Kino zu interessieren. Ich war zwar auch schon in der zweiten Hälfte der 1970er ein häufiger Kinogänger (wir wohnten etwa 300 m vom einzigen Kino des Städtchen, ich brauchte nur einmal die Straße überqueren), aber da schaute ich einfach, was angeboten wurde, u.a. unzählige japanische Monsterfilme. Erst mit dem Umzug ins nächstgrößere Provinznest (3 Kinos!!) und meinem neuen besten Freund, der sich intensiver etwa mit Hitchcock oder dem film noir beschäftigte, begann ich z. B. das Cinema zu lesen (erstes Heft: Blade Runner-Cover, also vermutlich Oktober 1982).
Und weil ich als Science-Fiction-Fan ein besonderes Augenmerk auf die Veröffentlichungen des Münchner Heyne-Verlags hatte (die begannen derzeit mit der Bibliothek der Science-Fiction-Literatur), kam ich auch irgendwie auf die Heyne-Filmbibliothek, und ich glaube, Band 60, Dustin Hoffman, muss zusammen mit dem Lexikon des Science-Fiction-Films eines meiner ersten Filmbücher gewesen sein (jetzt mal abgesehen von novelizations von Alan Dean Foster und solchen Jugendsünden). Ich, Christian und Lutz durchstöberten damals regelmäßig die aktuell aus dem Boden sprießenden Videotheken und klapperten an Dustin-Hoffman-Filmen so ziemlich alles ab, selbst Filme wie Midnight Cowboy oder Lenny, für die wir damals sicher noch nicht die sittliche Reife und / oder den Überblick über das Weltgeschehen hatten.
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Spätgeborene haben ja keinen Schimmer, was Dustin Hoffman einst für eine Bedeutung für das US-Kino der 1970er hatte (in meiner bescheidenen Meinung ist er Robert De Niro ebenbürtig und weitaus wichtiger als Al Pacino).
Hier mal eine Aufstellung der zehn wichtigsten Filme seiner frühen Karriere:
- The Graduate (1967, Mike Nichols)
- Midnight Cowboy (1969, John Schlesinger)
- Little Big Man (1970, Arthur Penn)
- Straw Dogs (1971, Sam Peckinpah)
- Papillon (1973, Franklin J. Schaffner)
- Lenny (1974, Bob Fosse)
- All the President's Men (1976, Alan J. Pakula)
- Marathon Man (1976, John Schlesinger)
- Kramer vs. Kramer (1979, Robert Benton)
- Tootsie (1982, Sydney Pollack)
Okay, da ist jetzt kein Taxi Driver oder Godfather dabei, aber unterschiedlichste Themen, Genres, Regisseure und Rollen. Die heutzutage bis auf einige Ausnahmen sagen wir mal einem durchschnittlichen Dreißigjährigen nicht mehr viel sagen werden, weil die Dustin Hoffman halt nur als kleinen alten Mann kennengelernt haben und nicht den ungewöhnlichen Actionhelden aus Marathon Man oder den gleichberechtigten Partner von Robert Redford (!) aus All the President's Men (im Fernsehen ist es ja heute auf den meisten Sendern auch schon eine Seltenheit, wenn ein Film nicht aus den letzten zweieinhalb Jahrzehnten stammt). Selbst ein verhältnismäßig straighter Abenteuerfilm wie Papillon hat uns damals - mit zehnjähriger Verspätung und mit Abspielgeräten, die heutzutage als vorsintflutlich abgetan werden - ziemlich weggeflasht. Und die Aufregung um Filme wie Midnight Cowboy oder Tootsie kann sich heute kaum jemand mehr vorstellen.
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Der Film, der aber alles überschattet (selbst Hoffmans zweiten Oscar für Rain Man), ist The Graduate. Mit 15/16 waren wir ziemlich genau im richtigen Alter - und mit jeder erneuten Sichtung überzeugt mich dieser Film aufs Neue. Ich hatte ihn damals mal als VHS-Aufzeichnung aus dem Fernsehen, dann als Original-VHS (trotz popeligen 26.000 Einwohnern hatte Verden längere Zeit eine englischsprachige Videothek, gleich gegenüber der britischen Kaserne), und als DVD habe ich ihn mir dann noch mal gekauft. Und zwischendurch auch noch mal im Arsenal oder so auf der großen Leinwand gesehen.
Bei der Pressevorführung saß neben mir eine Kollegin, die den Film zwar auch mal irgendwann in ihrer Jugend in der Synchronfassung gesehen hatte - aber sie war nicht im geringsten darauf gefasst, wie clever das Drehbuch ist, wie man hier mit Kameratricks arbeitet oder geschickt den Schnitt einsetzt. Wenn heutzutage ein Regisseur, der zuvor nur einen Filmcredit hatte, auf die Idee käme, für zwei aufeinanderfolgende komplett ausgespielte Songs lang (The Sound of Silence / April come she will) eine gut fünfminütige dialogfreie Montagesequenz zu basteln (die aber erstaunlicherweise die Geschichte wirklich vorantreibt), würde man ihm vermutlich die Regie aus den Händen reißen und Alan Smithie herbeirufen.
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Der 2014 leider verstorbene Mike Nichols, einst zusammen mit Elaine May (die später mit Hoffman und Warren Beatty den zu Unrecht gefloppten Ishtar drehte) ein Komiker, der sich als Broadway-Regisseur seine Sporen verdiente, war damals 33, Dustin Hoffman 30, und Anne Bancroft, der einzige wirkliche »Star« des Films, war 36. Was Nichols aber nicht davon abhielt, die beiden überzeugend einen College-Absolventen (der während der Filmhandlung seinen 21sten Geburtstag erlebt) und eine »I'm twice as old as you« Mutter zu spielen. Zu Zeiten, als das Akronym MILF noch keine Bedeutung hatte und man bei einem Cougar vermutlich an eine Wildkatze dachte (auch, wenn das aktuell verwendete Plakat und Mrs. Robinsons Vorliebe für Tiermuster auf ihrer Kleidung schon stark in die selbe Richtung gehen).
Welchen Eindruck The Graduate (Regie-Oscar gegen die allesamt bereits etablierten Kollegen Richard Brooks, Norman Jewison, Stanley Kramer und Arthur Penn durchgedrückt) auf durchaus prominente Kollegen hatte, sieht man, wenn man sich Travis Bickles erstes Date oder den Vorspann von Tarantinos Jackie Brown anschaut...
Sehr interessant ist auch, wie man mit zunehmenden Alter »plötzlich« auch den Standpunkt der berüchtigten Mrs. Robinson einnimmt, die sich zwar zu keinem Zeitpunkt besonders vorbildlich verhält, aber es auch nicht unbedingt verdient hat, wenn die Tochter ihr auf das vermutlich sogar gutgemeinte »It's too late, Elaine!« ein »Not for me!« entgegenschleudert. Ziemlich genial ist auch, dass Elaine das heftige Augen-Makeup vermutlich von ihrer Mutter zu applizieren gelernt hat, was besonders die »Familienähnlichkeit« unterstreicht, aber gleichzeitig auch den (real nicht so deutlichen) Altersunterschied.
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Ob man auf die Schauspieler achtet, auf die Dialoge, auf die Musik, auf den Schnitt oder die Kamera (zählt mal die Totalen und / oder establishing shots: Eine Hand reicht dicke!) mit dem besonderen Einsatz der Unschärfen: The Graduate ist ein Meisterwerk, das man unbedingt mal auf der großen Leinwand gesehen haben sollte. Und die 4K-Restauration hat Mike Nichols vor seinem Tod noch zweimal abgesegnet (die Tonmischung extra).
Abgesehen davon, sich selbst im Pool herumzulümmeln und eine Affäre zu beginnen, eigentlich das Beste, was einem diesen Sommer passieren kann.
Freiluftkino mit Pool scheint besonders geeignet... am besten stilecht im Taucheranzug!