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8. November 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die Welt sehen (Delphine & Muriel Coulin)


Die Welt sehen
(Delphine & Muriel Coulin)

Originaltitel: Voir du pays, Frankreich / Griechenland 2016, Buch: Delphine & Muriel Coulin, Lit. Vorlage: Delphine Coulin, Kamera: Jean-Louis Vialard, Benoît Dervaux, Schnitt: Laurence Briaud, mit Soko (Marine), Ariane Labed (Aurore), Ginger Romàn (Fanny), Karim Leklou (Max), Andreas Konstantinou (Chrystos), Maki Papadimitriou (Harry), Alexis Manenti (Jonathan), Robin Barde (Toni), Sylvain Loreau (Momo), Jérémie Laheurte (Ness), 102 Min., Kinostart: 9. November 2017

Voir du pays: Dieser tolle Titel beschreibt gleich in mindestens zweifacher ironischer Hinsicht die Ausgangssituation dieses Films: Eine Gruppe französischer Soldaten, auf dem Heimweg von einem Afghanistan-Einsatz, macht einen Zwischenstopp in einem Touristenhotel auf Zypern, zur »Dekompression«. In beiden Ländern agieren die Soldaten wie Fremdkörper, die zumeist in einem abgekapselten »Käfig« leben. Von den Ländern, die sie »besuchen«, sehen sie äußerst wenig, ihr jeweiliger »Wohnort« ist auch keineswegs repräsentativ für das jeweilige Land.

Die auf dem Plakat wiedergegebene Situation zeigt einen der visuell stärksten Momente des Films: in einem unwirklichen Land aus himmelblauen Pools und sich entspannenden feiersüchtigen jungen Leuten dringen die Soldaten in ihrer Tarnkleidung, mit Marschgepäck ein. Die Invasoren sollen sich akklimatisieren - man weiß instinktiv, dass dies nicht einfach fallen wird.

Die Welt sehen (Delphine & Muriel Coulin)

Peripher

Der Film beginnt nicht in Afghanistan, sondern im Flugzeug, eine Landkarte wie aus einem alten Hollywood-Film erklärt die Flugroute. Während des dreitägigen Badeurlaubs soll über eine psychologische Betreuung die Reintegration in der Heimat unterstützt werden. Schon an Bord des Flugzeugs wird dazu ein Fragenkatalog verteilt: Glauben Sie, dass sie emotional gestört sind, zu Wutausbrüchen neigen ... usw. Während Marine (Soko, La danseuse) die Fragen wie selbstverständig verneint und somit »abhakt«, macht sich Aurore (Ariane Labed, Attenberg, The Lobster) daran, wirklich darüber nachzudenken, ob sie hier ja oder nein ankreuzt.

»Es tut schon gut, keine Angst vor Minen haben zu müssen« - »Ja, ist wie Disneyland« - auch der Dialog bezieht sich offensichtlich auf das Kontrastprogramm, das wir als Zuschauer nur zur Hälfte absolvieren müssen. Die in der Mehrzahl vorhandenen Kollegen diskutieren indes, wie die weiblichen Bewohner Zyperns, mit denen man sich etwas sexuelle »Dekompression« erhofft, korrekt bezeichnet werden. »Nach den Burquas nun die Strings.«

Die Welt sehen (Delphine & Muriel Coulin)

Peripher

Unsere Protagonistinnen erfreuen sich anfänglich am ersten Bett, einer Dusche und der Minibar. Eine Kollegin hat eine winzige Schlange aus Afghanistan mitgebracht, man diskutiert erstmals Erlebnisse: »Ness hat einen Hund verloren.«

Die eigentliche Vergangenheitsbewältigung findet in einem extra dafür hergerichteten Versammlungsraum im Hotel statt: An der Wand die obligatorische Landesflagge, nacheinander sollen die Soldaten vortreten und von ihren Erlebnissen berichten - man ist ja »immer noch im Einsatz«, kann sich dem also nur bedingt entziehen.

Anstelle der »realen« Kriegsbilder werden diese persönlichen Berichte nun durch per Beamer an die Wand geworfene Virtual-Reality-Bilder (die synchron von Experten aus digitalen Konserven zusammengestellt werden) dazu geliefert. Was die Berichtenden dazu bewegen soll, sich der Erinnerung nicht zu sperren, sondern sie angesichts der suboptimalen Entsprechung detaillierter zu umschreiben.

Die Welt sehen (Delphine & Muriel Coulin)

Peripher

Während nach und nach immer deutlicher wird, dass Aurore sehr unter einem Erlebnis leidet, sieht man dennoch noch Zwischenschnitte auf die sonnenbeschienenen Partytänzerinnen mit ihren Cocktails.

Während es schon im Ferien-Ambiente zu Reibereien kommt, brechen nun zwei Gruppen ins »echte« Zypern auf: Zum einen zwei Ortsansässige mit den Soldatinnen, zum anderen einige männliche Soldaten, denen das nicht passt. Auf dem höchsten Punkt der Insel, der die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei repräsentiert, kommt es zum ersten ansatzweisen Showdown, doch dann bricht man zu einem traditionellen Dorffest auf, um die Gemüter zu beruhigen.

Dennoch eskaliert die Situation, plötzlich wütet nach Eifersuchtsausbrüchen und einem erotischen Scharmützel der Geschlechterkampf auch zwischen den Soldaten / -innen. Und der euphemistische Slogan »What happens in Vegas stays in Vegas« scheint nicht mehr auszureichen.

Die Welt sehen (Delphine & Muriel Coulin)

Peripher

Auf dem Frauenfilmfestival Dortmund / Köln 2017, wo Voir du pays mit dem Spielfilmpreis ausgezeichnet wurde, lobte man in der Laudatio die »sich stetig steigernde Spannung« und die »überall lauernde Bedrohung« sowie den Kampf mit den »inneren Dämonen, die wir als Publikum niemals vollständig verstehen können«.

Auch, wenn ich mit der abschließenden Eskalation nicht komplett zufrieden war, kann ich die »konzeptionelle Erzählkunst« auch nur in hohen Tönen loben.