Meine Tochter - Figlia mia
(Laura Bispuri)
Originaltitel: Meine Tochter - Figlia mia, Deutschland / Italien / Schweiz 2018, Buch: Laura Bispuri, Francesca Manieri, Kamera: Vladan Radovic, Schnitt: Carlotta Cristiani, Musik: Nando di Cosimo, Kostüme: Antonella Cannarozzi, Production Design: Ilaria Sadun, mit Sara Casu (Vittoria), Valeria Golino (Tina), Alba Rohrwacher (Angelica), Michele Carboni (Umberto), Udo Kier (Bruno), 98 Min., Kinostart: 31. Mai 2018
Der Film beginnt mit einer Zufallsbegegnung. Die kleine Vittoria (Sara Casu), in den meisten Texten zum Film als Zehnjährige deklariert, obwohl sie ihren zehnten Geburtstag erst nach etwa zwei Dritteln des Films feiert, stromert über ein Volksfest mit Rodeo-Anteilen (die Kamera bleibt nah bei ihr, nach dem Beispiel der Dardenne-Brüder). Vittoria mag offenbar Pferde, findet aber zwischen den Stallungen ein Paar bei sexuellen Aktivitäten. Zwischen ihr und der Frau, die sich hier einem besseren Stallburschen hingibt, ist eine deutliche Ähnlichkeit (schon aufgrund der roten Haare) zu erkennen, aber Vittoria verschwindet wieder, wirkt etwas traumatisiert, und findet schnell ihre Mutter im Trubel wieder.
Der Filmtitel Figlia mia ist clever gewählt, denn er impliziert die Perspektive einer Mutter. Wie sich relativ schnell herausstellen wird, ist die rothaarige Angelica (Alba Rohrwacher) Vittorias leibliche Mutter, doch davon weiß Vittoria nichts. Tina (Valeria Golino) ist ihre sich zunächst vorbildlich verhaltende Mutter, die nach der Geburt einen Pakt mit Angelica abgeschlossen hatte und die Mutterschaft übernahm, dafür im Gegenzug der flatterhaften und in finanziellen Nöten befindlichen Angelica gelegentliche Unterstützung zugesagt hat. Ich greife hier in der Geschichte etwas vor, aber es geht im Film weniger um die Vergangenheit und konkrete Geschehnisse, sondern um Gegenwart, Zukunft und vor allem Vittorias Entscheidung zwischen zwei Müttern, die auf unterschiedliche Art um sie kämpfen, dabei aber auch deutlich unterschiedlich geeignet wirken.
© Vivo Film / Colorado Film / Match Factory Productions / Bord Cadre Films
Tina und ihr Mann Umberto bieten Vittoria ein behütetes Zuhause, sind durch harte Arbeit vergleichsweise begütert auf der kargen Insel Sardinien, und Vittorias Engagement im Kirchenchor ist stellvertretend für das Bild von Unschuld, dem Mutter Angelica trotz ihres Namens dauerhaft entgegenstrebt. Selbst, wenn man mal die dauerhaften Männergeschichten, das Betteln um Drinks und die sogar von ihren Sexkontakten mokierte Schamlosigkeit außer Acht lassen, hat Angelica ihren Lebenstil komplett verinnerlicht. Auf ihrem verwahrlosten Hof, den sie binnen eines Monats räumen soll, weil sich ihre Schulden auf erkleckliche 28.733,31 Euro belaufen, läuft eine schwangere Hündin herum, die Angelica öfters »Nutte« nennt (ich habe leider nicht überprüft, inwiefern es die gleiche Bezeichnung für Hündin und Prostituierte, wie im Englischen und Französischen, auch im Italienischen gibt). Der eigentliche Name des Hundes lautet Luciana, nach Angelicas Mutter. Und an dieser Stelle darf nicht der Hinweis fehlen: »Sie ist ein Miststück, wie alle Mütter!«
Vorbildfunktionen erfüllt Angelica sicher nicht, aber Vittoria entdeckt gerade die Welt der Erwachsenen, will nicht mehr von den Klassenkameradinnen getriezt werden, weil sie sich mit Zungenküssen nicht auskennt, und so übt die seltsame Frau eine große Faszination auf sie aus, während die liebevolle Mama Tina schnell vernachlässigt wird.
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Was Vittoria auch nicht weiß, aber vielleicht insgeheim spürt: Mama Tina hat auch ihre negativen Seiten. Wenn sie zu Beginn ihrem Umberto gegenüber zugibt, dass sie irgendwie auch glücklich darüber ist, dass Angelica vielleicht wegzeihen muss, freut man sich noch über ihre Ehrlichkeit. Aber mehr und mehr zeigt sie ihr böses Gesicht, das dadurch, dass sie für Vittoria nur das Beste will, nicht sympathischer wird.
Umberto (Michele Carboni) stärkt seiner besitzergreifenden Frau auch nicht durchweg den Rücken, sondern ist beispielsweise der Meinung, dass die Tochter ein Recht darauf hätte, ihre Mutter mal kennenzulernen.
Schließlich wird Vittoria einmal mitgenommen zu der »verlorenen Seele« - und geht fortan heimlich die Frau, von deren Bedeutung für ihr Leben sie immer noch nichts konkretes weiß, besuchen. Und Angelica zelebriert das sich-nicht-muttergerecht-benehmen fast, tanzt beispielsweise wild zu einem Lied vom »Pornokönig« (»Diese Liebe ist unantastbar«) und reißt Vittoria durch ihre Wildheit, Unangepasstheit, den Unterschied zur immer allzu diskret auftretenden Mutter dabei mit.
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Die Trips zum abgelegenen Gut haben immer auch etwas gefährliches, die wüstenhafte Berggegend, die wild umherfahrenden Motorradgangs. Aber diese Gefahr ist für Vittoria offensichtlich interessanter als bei ihrer zum Babysitten abgeorderten »Großmutter« zu verbleiben, wo sie wie ein Kind behandelt wird, während sie gerade andere Welten erforschen will.
Tina wird zunehmend erschreckt durch die Verbindung ihrer Tochter zur leiblichen Mutter, wobei aber der »schädliche Einfluss« nicht so schwer wiegt wie die Angst um den möglichen Verlust all dessen, was sie nun zehn Jahre mit dem Kind auf ganz spezielle Art verband. Sie weiß von den Besuchen Bescheid, versucht aber zunächst noch indirekt Kontrolle auszuüben. Schließlich aber ist es soweit, dass sie eine Art »Schockprogramm« durchzieht, um Vittoria klarzumachen, »was für eine Frau« Angelica ist. Das treibt die Tochter, ausgerechnet am Tag ihres Geburtstags aber umso mehr zur anderen Frau. Egal, welche Fehler sie hat, Angelica ist immerhin ihre Mutter!
Am deutlichsten wird dann der Unterschied zwischen den Frauen dadurch, dass Angelica fast das selbe Schockprogramm durchzieht. Aber nicht, um Vittoria an sich zu binden, sondern um sie zurück zur »besseren« Mutter zu treiben. Dummerweise hat aber keine der Frauen die Tochter über dieses verwirrende Spielchen informiert, und so führt die falsch verstandene Opferbereitschaft Angelicas dazu, dass Vittoria, ganz erpicht darauf, die Liebe der Mutter zu erringen, in große Gefahr gerät.
© Vivo Film / Colorado Film / Match Factory Productions / Bord Cadre Films
Ich habe diesmal sehr viel über die Geschichte des Films erzählt, weil mir die Synergien und Spiegelungen so gut gefallen haben. Beim dramatischen Ende, dass die drei weiblichen Personen schließlich zueinanderführt (auch, wenn es zunächst wie eine Kollision wirkt), macht der Film dann abermals alles richtig.
Den vielgerühmten Erstling der Regisseurin Laura Bispuri, Vergine giurata (Sworn Virgin), der drei Jahre zuvor auch schon im Wettbewerb der Berlinale landete, habe ich seinerzeit verpasst, aber Figlia mia zeugt von einer fortan zu beobachtenden Filmemacherin, die ihrer Autorenschaft, dem Ausarbeiten von Figuren, der Zusammenarbeit mit den Darstellern (nicht zuletzt der jungen Sara Casu) und dem Blick für eine die Geschichte unterstützende Welt (das karge Sardinien mit seinen Besonderheiten) auf vielen Ebenen brilliert.