Der Klang der Stimme
(Bernard Weber)
Schweiz 2018, Buch: Bernard Weber, Kamera: Pierre Mennel, Bernard Weber, Schnitt: Dave Leins, Stefan Kaelin, mit Regula Mühlemann (Sopranistin), Miriam Helle (Stimmtherapeutin), Andreas Schaerer (Jazz-Sänger), Matthias Echternach (Stimmforscher), Ramon Vargas (Tenor), Georgia Brown (Hohe Stimme), Nadja Räss (Jodlerin), Lucas Niggli (Schlagzeuger), Miwa Yonashiro (Sängerin), Katan Hiviya (Jazz-Sänger), 82 Min., Kinostart: 1. November 2018
Die vier wichtigsten Protagonisten dieses schweizerischen Dokumentarfilms werden zu Beginn in Studioaufnahmen vorgestellt. Dies verschiebe ich auf den späteren Verlauf des Textes. Die prägende dramaturgische Struktur des Films orientiert sich nämlich nicht unbedingt an dieser Vierteilung (und der obligatorischen Entwicklung mit parallelisiertem Climax), sondern - und ich muss bei so was immer an die Manipulation des Zapp-Verhaltens bei Fernsehformaten denken - man strebt eine möglichst umfassende Abwechslung an, lauter Häppchen von einer halben bis zwei oder drei Minuten wechseln sich ab, wodurch zwar alle Langeweile-Vorwürfe zersetzt werden, aber der Film nicht die größtmögliche Stringenz erreichen kann.
Zum Thema der unendlichen Vielfalt der Stimme passt dieses Vorgehen aber durchaus. Wie will man auch Rituale der Maori, Röntgenaufnahmen trällernder Kehlköpfe und yoga-ähnliche Therapiesitzungen (drei völlig willkürliche Beispiele) nachvollziehbar auf eine Perlenschnur ziehen?
Bildmaterial: Mindjazz Pictures / Kinofreund
Die dem Menschen zur Verfügung stehende »freie Stimme«, die Kinder gerne intuitiv erforschen, wird von Erwachsenen nur selten bis nie ausgelotet, allenfalls noch beim Orgasmus oder einer Geburt (um schon zu einem frühen Zeitpunkt auf einen dramaturgischen Höhepunkt hinzuarbeiten). Wenn der Opernsänger Ramon Vargas von der Sprachtherapeutin erstmals zur freien Stimme geführt wird, fließen Freudentränen...
Bei einer Lebensfreude animierenden Sprachtherapie sieht man die sehr unterschiedlichen Teilnehmer, die sich mit ungebremsten Grimassen gegenseitig anschreien, dasselbe Thema fasziniert aber auch den Jazz-Sänger Andreas Schaerer, der wie Beatboxer und A-Cappella-Sänger auch die weniger naheliegenden Geräusche, die man mit dem Mundraum erzeugen kann, erkundet.
Bildmaterial: Mindjazz Pictures / Kinofreund
In einem starken Kontrast steht dies zur Sopranistin Regula Mühlemann, die unter anderem versucht, ihre Stimme so exakt zu manipulieren, dass sie einen perfekten Raumklang (360 Grad rundum, quasi unabhängig schwebend) sucht oder direkt vor einer Kerze stehend diese nicht zum Flackern bringen will. Diese Extreme wirken im Film, um mal eine etwas andere Analogie zu wählen, wie ein perfekt dressiertes Pferd bei einem Olympia-Auftritt oder ein Wildpferd, das sorgenlos durch die Prärie rast und sich hin und wieder gebärdet, als wolle es einen Reiter abwerfen, der gar nicht existiert. Die ultimative Freiheit oder die lupenreine Präzision. Oder, wie der Landsmann Friedrich Dürrenmatt zitiert wird: »Alles Denkbare wird einmal gedacht.«
Aber auch die Wissenschaft ist ein wichtiges Thema im Film. So erforscht man die weltweit höchste (!) Stimme der Amerikanerin Georgia Brown (nur mal so zwei Werte: Die »Königin der Nacht« aus der Zauberflöte benötigt 1396 Hertz, Georgia vollbringt so »abartige« Frequenzen um die Hausnummer 5000 Hertz herum) oder schiebt eine Jodlerin in die Röhre. Und die Stimm- und Musikforscher wie Matthias Echternach schlackern bei ihren unglaublichen Experimenten mit Hochgeschwindigkeitskamera oder MRT-Scan quasi mit den Ohren, können nicht unbedingt erklären, was hier mit dem Zwerchfell passiert oder wie man mehrere übereinanderliegende Frequenzen erstellen kann, die sich scheinbar unabhängig voneinander verhalten.
Bildmaterial: Mindjazz Pictures / Kinofreund
Eine gewisse Bindung der vielen Facetten des Films geschieht dadurch, dass nun auch die Sopranistin Regula Jodeln will etc. Meine Erfahrung aus dem Studium war, dass man sich erst dann in seinem Fachgebiet wirklich zuhause fühlt, wenn die Querverbindungen die einzelnen Fachgebiete zusammenführen (was bei Publizistik übrigens nie geschah). Eine andere Analogie zu diesem Phänomen, was im Film zumindest im Ansatz gelingt, findet man im Sprichwort »Umwege erhöhen die Ortskenntnis«: In meinen Zwanzigern war ich oft mit dem Auto in Hamburg unterwegs (obwohl ich 110 km entfernt in der Provinz lebte). Ich wusste einigermaßen schnell, wie ich vom Elbtunnel aus zu meinem bevorzugten Parkplatz (Berliner Tor) oder meinem Comicladen komme, und nach und nach konnte ich dann den Hauptbahnhof, das Dammtor / die Uni oder die Reeperbahn oder Altona zu meinem persönlichen Stadtplan hinzufügen, teilweise tatsächlich mit direkten Verbindungen von A zu B oder von F zu C. Wohlgemerkt ohne Navi, TomTom oder Handy!
Aber zurück zum Film, der einem nach und nach auch einen Überblick über das Phänomen Stimme nahebringt (wenn auch mit Betonung sämtlicher Extreme, während der »Mainstream« etwas unterbehandelt bleibt.
Bildmaterial: Mindjazz Pictures / Kinofreund
Vielleicht am nächsten an einem konventionellen Dokumentarfilm ist neben der Sopranistin der Jazzsänger Schaerer, der dem Motto folgt »Wenn's immer nur schön ist, ist es irgendwann nicht mehr authentisch«. Mit spontan erfundenen Unsinnstexten empfindet er etwa die japanische Sprache nach, während Regula in gebückter Haltung bestimmte Tonfolgen zelebriert.
Wie schon zu Beginn angedeutet, betreut Miriam Helle auch ein schwangeres Ehepaar, wodurch der erste Schrei eines Neugeborenen für den Film zum Alpha und Omega wird.
Meine Lieblingsszene dreht sich indes um Georgia Brown, die gerade das dreigestrichene F erreichen soll, während man ihr einen Schlauch in die Nase schiebt. Harte Wissenschaft ist halt kein Zuckerlecken! »This could be our first take. Wonderful!« schwärmt der Kittelträger, während Georgia sich fast übergeben muss. »Wonderful? Fuck you!«
'nuff said.