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9. November 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Leto (Kirill Serebrennikov)


Leto
(Kirill Serebrennikov)

Russland / Frankreich 2018, Buch: Mikhail Idov, Lily Idova, Kirill Serebrennikov, Vorlage: Natalia Naumenko, Kamera: Vladislav Opelyants, Schnitt: Yuriy Karikh, Musik: Roman Bilyk, mit Roma Zver (Mayk »Mike« Naumenko), Irina Starshenbaum (Natalia Naumenko / Natascha), Teo Yoo (Viktor Zoi), Filipp Avdeev (Leonid), Aleksandr Kuznetsov (Skeptiker), Aleksandr Gorchilin (Pank), 128 Min., Kinostart: 8. November 2018

Leto ist so was wie das Gegenstück zu Pavel Pawlikowskis Zimna wojna (Cold War, Start 22.11.): zwei Ostblock-Filme in Schwarzweiß, die von einer »historischen« (ich habe gewisse Beklemmungen, diesen Begriff zu benutzen, wenn ich die zeit persönlich erlebt habe) Liebe zwischen Musikern erzählen. Wo Cold War mir eine Spur zu arty-farty war und darunter litt, dass insbesondere die Liebesgeschichte mich nicht überzeugte, funktioniert Leto eigentlich ganz gut, ist mir beim Anspruch indes fast zu low brow. Manchen Leuten kann man es nur schwer recht machen.

Zu Leto gibt es eine autobiographische Buchvorlage, in der das Mädchen, das hier zwischenzeitig zwischen zwei aufstrebenden Musikern steht, ihre Geschichte erzählt. Weder ist mir der Fall bekannt, noch die Musiker / Bands oder das Buch. In der Verfilmung erscheint es mir dennoch so, als versuche man sich durch eine gewisse Angleichung an den Massengeschmack, sich beim Publikum anzubiedern. So ähnlich (aber charmanter) wie bei gewissen Dokumentationen, die ich hin und wieder auf ZDFinfo sehe. Da erzählt man dann über das »Leben im geteilten Deutschland« oder »Die 68er« und gibt sich reichlich Mühe, durch die zeitgeschichtliche Musikauswahl nicht das potentielle Zielpublikum (also Rentner) zu verprellen. Wenn man also zum Thema Hippies kommt, spielt man bevorzugt Scott McKenzie oder The Mamas and the Papas, wenn es um Punk geht, werden nicht die Dead Kennedys eingespielt, sondern mit ziemlicher Sicherheit Interpreten wie The Who oder T-Rex, die zwar mit dem Musikgenre eine eher vage Verbindung haben, aber dem Trommelfell vergleichsweise schmeicheln und mit lyrics um »My Generation« oder »Children of the Revolution« Zuschauern mit rudimentären Englischkenntnissen das Gefühl geben, sie unterstünden komplexe Textbezüge (sorry, falls das jetzt eine Spur überheblich klingt, aber mich nervt diese »Vertonung light« schon ziemlich - und das Problem sind natürlich nicht unbedingt die Zuschauer, sondern die Programmmacher, die sich einbilden, genau zu wissen, was das Publikum will und was man ihm nicht zumuten darf - weil ja jeder, der wegzappt, zu bestimmten Zeiten die Einschaltquote halbieren könnte).

Leto (Kirill Serebrennikov)

© Hype Film - Kinovista 2018

Zurück zu Leto: Der Film beginnt mit einem von der Regierung geduldeten und von Saalordnern begleiteten Konzert, zu dem drei Mädchen durch Unterstützung der Bandmitglieder sich einschleichen können. Im Verlauf des Films habe ich den Eindruck gewonnen, dass es sich hier um einen flash forward handelt, der einen Punkt der Geschichte bereits vorwegnimmt, während man wie in einer Rückblende später schildert, wie es dazu kam - aber so richtig sicher bin ich mir nicht. Evtl. beschreibt man auch eine Art Kreisbewegung, bei der es keine wirkliche Veränderung gibt (»Alles tausendmal da gewesen, die Veteranen und die Jugend!«). Zwar erkennt man die Anfangsszene später wieder, aber es passt irgendwie nicht alles genau zusammen. Vermutlich ist die Verwirrung beim Betrachter auch gewollt. Oder ich war schlichtweg zu blöd, den Film zu verstehen. Was ihn aber nicht unbedingt schlechter machte.

So richtig 1:1 kann man im Film kaum etwas hinnehmen. So geht es beim anfänglichen Konzert darum, wie die Jugend zögerlich revoltiert und der Auftritt ein Erfolg wird. Da fällt die Dialogzeile »Miststück ist ein Hit, ich schwör' dir, der halbe Saal hat mitgesungen!« - aber man hat ja eben als Zuschauer die Szene miterlebt, und diese Beschreibung trifft nicht einmal ansatzweise das, was man da gesehen hat (die Stimmung war zwar euphorisch, aber allenfalls einige wenige haben mitgesungen).

Leto (Kirill Serebrennikov)

© Hype Film - Kinovista 2018

Vielleicht muss man einfach mehr Backgroundinformationen haben, um alles genau einzusortieren, was im Film passiert. Immer wieder gibt es auch (filmisch sehr reizvolle) Passagen, die offenbar »nie passiert« sind, dem Film aber wie mit Musikvideos (teilweise in bunt teilanimiert) einen gewissen Drive geben. Hier hält man sich auch nicht an die (im Westen eher unbekannte) Musik der realen Bands, die Vorbild für den Film waren (deren Musik ist vorhanden, aber in anderen Szenen), sondern greift auf Superhits zurück wie Psycho Killer von den Talking Heads oder The Passenger von Iggy Pop. Die Realität und das Wunschbegehren der aufstrebenden Musiker verbinden sich in der Filmhandlung. Mike und Viktor zeichnen etwa Albumcover von Blondie oder David Bowie ab und verkaufen sie zum Teil (die Bravo konnte man in Russland nicht am nächsten Kiosk kaufen, um sein Zimmer mit Postern aufzuhübschen). Und auch im Film verschwimmen die Realitäten und Fantasien.

Das ist durchaus interessant, aber wenn man es kritisch sehen will, könnte man auch sagen, man verzichtet auf eine klar strukturierte Dramaturgie und hängt lieber locker einige Slacker-Episödchen hintereinander. Der Film bildet scheinbar den Alltag einer Band (mit dem gemeinsamen composing) ab, aber alles wirkt zu sehr wie Musikvideos. Alle Nase lang haut man improvisiert auf irgendwelchen Gegenständen herum, die nahezu perfekte perkussive Passagen von sich geben, und Viktor und sein Kumpel Leonid haben beispielsweise ein besonderes Talent dafür, aus atonalem Gegröle auf Anhieb durchdachte Harmonien zu entwickeln.

Leto (Kirill Serebrennikov)

© Hype Film - Kinovista 2018

Trotz dieser Einwände funktioniert aber der Kern des Films, die Liebesgeschichte, ziemlich gut. Mike und Natalia (im Abspann und den Untertiteln fast immer Natascha genannt, obwohl man die Koseform im Film vielleicht zwei- oder dreimal vernimmt, dass muss etwas mit dem Wunsch der realen Natalia zu tun gehabt haben, ihre Figur zu fiktionalisieren) sind bereits ein Paar (nebst Söhnchen), als sich Natalia für den jüngeren Viktor zu interessieren beginnt. Mike erkennt dies und zum Höhepunkt des Films »opfert« er sich quasi für ihr Glück. Das Beschreibt die konkrete Handlung und ihren Ausgang nur im Ansatz, gibt einen aber einen gewissen Eindruck, worum es im Film geht.

Den »fantastischen« Ansatz der Musikvideos begleitet auch eine Figur, die wohl »der Skeptiker« genannt wird, und die einen zum Ende dieser Passagen quasi jeweils wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hat. Bei dieser Figur oder einem »Fotobiografen«, der die Band begleitet, war ich auch weit entfernt davon, im Detail zu durchdringen, was die Funktion dieser Figuren war. Wie gesagt, einiges war wohl durchaus authentisch gemeint oder basierte auf den Erinnerungen der echten Natalia, aber der Film war gleichzeitig auch ganz gezielt auf ein internationales Publikum zugeschnitten, das offensichtlich nicht über alle Hintergrunddaten im Bilde ist. Dazu passen auch die anfänglich von mir beschriebenen ZDFInfo-Ansätze. Man unterscheidet hier auch kaum zwischen dem musikalischen Einfluss und der historischen Wertigkeit von sagen wir mal Iggy Pop und der Band Sweet.

Leto (Kirill Serebrennikov)

© Hype Film - Kinovista 2018

Dass der Regisseur während der Dreharbeiten festgenommen wurde und seinen Film in Hausarrest fertig stellen musste, gibt dem Ganzen natürlich auch eine politische Bedeutung, der der Film aber nur im Ansatz gerecht wird. Politische Punkte findet man zwar auch in der Filmhandlung (mit einer Filmfigur wird ähnlich umgesprungen wie mit dem Regisseur, aber diese Szene läuft als Musikvideo ab und ist somit »nie geschehen«), aber auf mich machte das Ganze den Eindruck wie ein millionenfach verkauftes Che-Guevara-Tieschört: the revolution has been merchandized, televised etc.

Im Film wird mal eine bekannte New Yorker Band umschrieben, was eigentlich auch den Film passend umschreibt: »ist halt Underground, nur samtiger!« Das ich dabei an Schwartau Konfitüre denken musste, ist eine rein persönliche Einordnung des Ganzen.

Teile des Films, die ich mir größer ausgewalzt gewünscht hätte, betreffen etwa den leichtfüßig parodierten Zensurbereich. Wenn die Band einigen Offiziellen beweisen muss, dass sie »das lyrische Ich« beherrschen und der sowjetische Rockmusiker »das Gute im Menschen« sucht. Oder was genau am Lied »Achtklässlerin« jetzt sozialkritisch ist. Auch die Ironie von Viktors Band »Kino« (hübsch, wie lange man am Bandnamen herumfeilte, bis man etwas so sinnfälliges fand) hätte man gern stärker betonen können. Für mich klangen die wie die Silicon Teens, die einen auf Country machen.

Alles in allem kein komplett befriedigender Film, aber einer der animiert und mitreißt, selbst wenn hier und da etwas nicht so recht passt. Eben exakt so wie Musik, die nicht perfekt oder supergenial sein will, sondern ihr Publikum erreicht.

Die US-College-Band They Might Be Giants hat sich mal nach einem kaum bekannten Film benannt, Leto (übrigens russisch für »Sommer«, natürlich ein Songtitel) erinnert mich als Film an das musikalische Prinzip dieser Band, die auch schon mal ein halbes Album mit 15-Sekunden-Songs bestückte.