Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




19. Dezember 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Astrid (Pernille Fischer Christensen)


Astrid
(Pernille Fischer Christensen)

Schweden / Deutschland / Dänemark 2017, Originaltitel: Unga Astrid, Buch: Kim Fupz Aakeson, Pernille Fischer Christensen, Kamera: Erik Molberg Hansen, Schnitt: Åsa Mossberg, Kasper Leick, Musik: Nicklas Schmidt, Kostüme: Cilla Rörby, Production Design: Linda Janson, mit Alba August (Astrid Ericsson), Trine Dyrholm (Maria), Henrik Rafaelsen (Reinhold Blomberg), Marie Bonnevie (Hanna Ericsson), Magnus Krepper (Samuel Ericsson), Björn Gustafsson (Sture), Mira Mitchell (Berta), Liv LeMoyne (Saga), Marius Damslev (Lasse 3 Jahre alt), Isaak Lydik Radion (Lasse 2 Jahre alt), Maria Fahl Vikander (Astrid 1987), 123 Min., Kinostart: 6. Dezember 2018

[Nachfolgender Text erschien ursprünglich im Münchner
Kultur-Magazin Applaus]

Die Geschichte einer Geschichtenerzählerin

Astrid Lindgren (1907-2002), international bekannt geworden durch ihre Kinderbücher über Ronja Räubertochter, Michel aus Lönneberga usw., wurde u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und zur »Schwedin des Jahrhunderts« erklärt. Dass sie mit 18 Jahren unehelich schwanger wurde (im Schweden der 1920er ein handfester Skandal), tat sie der Öffentlichkeit erst mit über 70 Jahren kund. In Astrid geht es nur in einer Rahmenhandlung um die mit Säcken kindlicher Fanpost überschwemmte berühmte Schriftstellerin, die eigentliche Geschichte ist die Entwicklung einer starken jungen Frau, die um ein Leben mit ihrem kleinen Sohn Lars (genannt Lasse) kämpft.

»Ich glaube, ich wäre auch Schriftstellerin geworden, wenn das mit Lasse nicht passiert wäre. Aber ich wäre niemals eine berühmte Schriftstellerin geworden.« Diese Einschätzung richtete Astrid später einmal an eine Nichte, der Film setzt seine Geschichte als durch Geburtstagswünsche einer Schulklasse inspirierte Erinnerung an. Astrid, mit viel Vehemenz vom jungen Shooting Star Alba August gespielt, wächst mit drei Geschwistern auf einem Bauernhof auf, ehe sie 1924 ein Volontariat bei der örtlichen Zeitung beginnt, der »Vimmerby Tidning«. Der im Film nicht ganz die realen 30 Jahre Altersunterschied aufweisende Chefredakteur Reinhold Blomberg (Henrik Rafaelsen) ist der erste Erwachsene, der Astrid ernst nimmt und ihr schriftstellerisches Talent fördert. Gleichzeitig lässt sich der in Scheidung lebende Familienvater aber auch auf eine Affäre mit der blutjungen Schutzbefohlenen ein, die mit ihrer hin und wieder durchscheinenden wilden Art (es sind die Roaring Twenties und sie trägt eine progressive Kurzhaarfrisur, die sie in einer deutschen Frauenzeitung entdeckte) genauso alt ist wie Blombergs Tochter.

Astrid (Pernille Fischer Christensen)

© DCM / Erik Molberg Hansen

Um den Skandal zu vertuschen (Reinhold droht eine Gefängnisstrafe), bringt Astrid das Kind im Ausland, in Kopenhagen zur Welt und überlässt Lasse auch einer dänischen Pflegemutter (Trine Dyrholm, die dieses Jahr schon in Nico, 1988 begeisterte). Doch in der anfänglich so harmonischen Beziehung zeigt sich, dass Reinhold ganz andere Prioritäten setzt als Astrid, deren Mutterliebe jämmerlich unter der Zwangstrennung leidet. Mit Astrids Augen sehen wir, wie aus dem Vorbild Reinhold ganz allmählich ein Kleingeist wird, der Astrid zwar finanziell unterstützen will und ihr einen Platz im Familienhaus anbietet (inkl. neuer Küche und implizit der Kindheitsfreundin als »Stieftochter«!), dabei aber immer sein eigenes Wohlergehen im Blick hat.

Astrid (Pernille Fischer Christensen)

© DCM



 

Mit der wirklichen Geschichte Astrid Lindgrens nehmen sich Regisseurin Pernille Fischer Christensen und ihr bevorzugter Co-Autor Kim Fupz Aakeson (selbst ein Kinderbuchautor) einige Freiheiten. Der Herr, dem sie etwa ihren späteren Nachnamen verdankt, wirkt im Film wie ein aufopferungsbereiter junger Mann, an keiner Stelle wird angedeutet, dass Astrid nach dem ersten Missgeschick noch eine zweite Affäre mit einem verheirateten Kerl beginnt, der zudem Alkoholprobleme hatte. Aber darum geht es im Film auch nicht (der Name Lindgren wird eher wie eine Story-Pointe benutzt), sondern um den Kampf um Lasse und die Selbstbestimmung, wobei die seltenen Treffen mit dem ganz auf die Pflegemutter fixierten Sohn, der nicht einmal von »Lassemama« ins Bett gebracht werden will (»Du redest komisch!« meint der auf Dänisch aufgezogene Sohn), emotional viel von ihr und dem Publikum fordern.

  Astrid (Pernille Fischer Christensen)

© DCM



Nur am Rande, größtenteils subtil und einfühlsam wird der Bezug zur späteren Karriere gebildet. Vor allem durch die Rahmenhandlung, die immer wieder Zitate der Klasse "4a" in Bezug zur Haupthandlung bringt (»Ich finde, die Kinder in deinen Büchern schaffen so viel!«). Doch auch die ungestüme Handkamera, die sich der radelnden Astrid anpasst, lässt an Pippi Langstrumpf denken, und wenn sie als Telefonistin die Herren »Nilsson« und »Karlson« verbindet, ist dies eine kleine Ehrerweisung.

Der schönste Trick des erstaunlich mainstreamtauglichen Drehbuchs, der genial ein mögliches Fazit des Films unterstreicht, ist erneut ein Kinderzitat eines kleinen Fans: »Du verstehst uns. Du magst uns. Du bist auf unserer Seite!«

Als professioneller Kritiker verfällt man eher nicht in den »Ich«-Modus, aber hier muss es sein: Ich habe den Film zweimal gesehen, und ich würde ihn gern auch noch ein drittes Mal sehen - mit meiner Mutter zusammen!

Astrid (Pernille Fischer Christensen)

© DCM / Erik Molberg Hansen