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19. Dezember 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die Schneiderin der Träume (Rohena Gera)


Die Schneiderin
der Träume
(Rohena Gera)

Originaltitel: Sir, Indien / Frankreich 2018, Buch: Rohena Gera, Kamera: Dominique Colin, Schnitt: Jacques Comets, Musik: Pierre Avia, Kostüme: Kimneineng Kipgen, Szenenbild: Parul Sondh, mit Tillotama Shome (Ratna), Vivek Gomber (Ashwin), Geetanjali Kulkarni (Laxmi), Rahul Vohra (Ashwins Vater), Divya Seth Shah (Ashwins Mutter), Chandrachoor Rai (Vicky), Dilnaz Irani (Nandita), Bhagyashree Pandit (Choti), Anupriya Goenka (Ankita), Akash Sinha (Raju), Rashi Mal (Sabina), 99 Min., Kinostart: 20. Dezember 2018

Wo der Originaltitel Sir die Unglaublichkeit einer klassendurchbrechenden Liebe in Indien betont (die Dienerin muss nebenbei lernen, ihren Herrn etwas anderes als »Sir« zu nennen, geht der mittelmäßig schreckliche deutsche Titel Die Schneiderin der Träume ganz auf die Märchenhaftigkeit der Geschichte ein und akzentuiert ihren Traum, nebenbei auch noch Modedesignerin werden zu wollen. Der eigentliche Film ist irgendwo zwischen diesen Extremen versteckt.

Ratna (Tillotama Shome) ist eine junge Witwe, ein Status, der traditionell in Indien als »verschlissen« und nahezu hoffnungslos betrachtet wird. Dass sie als Dienstmädchen für Ashwin (Vivek Gomber), einen jungen Mann aus wohlhabendem Hause, arbeitet, könnte man fast schon als Lottogewinn betrachten, auch, weil ihr Chef ihr respektvoll und mit Toleranz für ihre Freiräume begegnet (was man von seinem familiären Umfeld nur sehr bedingt behaupten kann).

Die Schneiderin der Träume (Rohena Gera)

© Neue Visionen Filmverleih

Trotzdem will Ratna ihr Leben verbessern. Ihr Traum ist es, Modedesignerin zu werden. Für sie steht am Anfang dieses Lebenswegs eine Lehre als Schneiderin, für die sie weder die Zeit noch die notwendigen Finanzen hat. Sie lässt sich auf einen Nebenjob mit einem Schneider ein, der so wird für den Zuschauer weitaus schneller als für sie klar, sie als unbezahlte Praktikantin und »Mädchen für alles« (wie heißt das weibliche Äquivalent eines »Laufburschen«?) ausnutzt. Statt ihr etwas beizubringen, schachert er ihr alle niederen Jobs zu, ihre kreative Seite kann sie hier weder ausleben noch entfalten (»Mach erst mal das Zimmer sauber, nächste Woche sehen wir weiter...«).

Zudem sorgt der ungewöhnliche Nebenjob trotz des Entgegenkommens ihres Chefs zu zeitlichen Konflikten, ungewollt vernachlässigt sie ihren eigentlichen Job. Dies führt jedoch dazu, dass Ashwin sie zunehmend als Individuum wahrnimmt, ihre Probleme erkennt und sie unterstützen will. Ganz langsam weicht die Distanz zwischen den beiden auf.

Die Schneiderin der Träume (Rohena Gera)

© Neue Visionen Filmverleih

Auch Ashwin hat seine Probleme. Von seiner Familie wird es als gegeben angenommen, dass er die Baufirma des Vaters übernehmen wird, eine angemessene Hochzeit wird auch arrangiert, doch trotz seiner Klasse, trotz seiner Ausbildung in den USA, trotz seines Single-Lebens mit ansehnlichen Eroberungen führt er ein unfreies, ihn nicht erfüllendes Leben.

Als seine vermeintliche Bilderbuch-Hochzeit platzt, ist Ratna, deren Background ja gewisse Parallelen aufweist (nur, dass sie ihren Bräutigam kurz nach statt vor der Hochzeit »verlor«), die einzige, die Ashwins in sich gekehrte Melancholie nachvollziehen kann. Und daraus entwickelt sich eine - zumindest in Indien - sehr schwierige Beziehung, die Tabus bricht und Vorurteile, die zuvor unterdrückt wurden oder unausgesprochen blieben, aufwirbelt.

In einem anderen Film, den ich jüngst gesehen habe, der aber erst in einem Vierteljahr anläuft, geht es um einen (doppelten) Ehebruch, den die Frau einer Angestellten beichtet, die daraufhin erstaunlich entspannt reagiert und ausführt, dass »solche Dinge geschehen« und auf lange Sicht zumeist dazu führen, dass sie die bestehenden legitimen Beziehungen (und die Wertschätzung dafür) nur unterstützen (man begreift, »was man daran hat«). Bis die Ehebrecherin ein kleines Detail über die Herkunft ihres Liebhaber fallenlässt - und alle Toleranz und Verständnis (die implizit auf eigenen Erfahrungen der Angestellten basieren) plötzlich wie weggeblasen sind. So ähnlich verhält es sich auch im Kern von Sir. Bestimmte Grenzen werden schon mal überschritten, das »kann passieren«, aber man soll doch zumindest dabei seinen gesunden Menschverstand behalten und nicht völlig undenkbare Beziehungen eingehen. Wobei diejenigen, die eine solche Haltung propagieren, natürlich die eigene Doppelmoral nie wahrnehmen.

Die Schneiderin der Träume (Rohena Gera)

© Neue Visionen Filmverleih

Sehr schön werden im Film die beiden Welten »nebeneinander« abgebildet: die Dienstboten, Fahrer und Security-Leute, die sich im Gegensatz zu den reicheren Chefs auch mal untereinander austauschen und mit ihrem Leben in der »Unterklasse« durch etwas menschliche Wärme und Solidarität nicht unbedingt automatisch den schlechteren Stand haben. Das hat mich ein wenig an Kinderbücher oder Comics erinnert, wo die Schlümpfe, Gifticks oder die »Borger« quasi »zwischen den Ritzen« der »Großen« ein kaum beachtetes Leben fristen können, das teilweise aus den »Resten« der anderen ein beachtliches Tableau zaubert.

Neben den einfühlsam geschaffenen beiden Hauptfiguren überzeugt auch deren Umfeld und daraus entstehen zusätzliche Konflikte. Es wirkt wie eine Farbskala: Ratna und Ashwin passen gut zusammen, deren jeweilige Schwestern divergieren schon ein wenig - aber wenn man jetzt quasi »um zwei Ecken« die potentiellen »Schwägerinnen« oder vergleichbare Verwandte nebeneinanderstellt, dann wirkt das schnell wie unvereinbare Komplementärfarben, zwei Enden vom Regenbogen oder ähnliches.

Die Schneiderin der Träume (Rohena Gera)

© Neue Visionen Filmverleih

Auch, wenn ich durchaus einige Probleme sah, insbesondere im zu hübsch drapierten Schluss, so waren die Figuren, ihre Geschichten und Schicksale doch interessant und ansprechend genug, dass man den Film durchaus weiterempfehlen kann. Man erkennt zwar die allzu typischen (auch narrativen) Muster von Romantic Comedies und ähnlichen Genres, aber die Geschichte wirkt nicht so lapidar »runtererzählt« wie bestimmte Hollywood-Schmonzetten, die sich ans gleiche Publikum wenden, aber keinerlei Auge für die Details haben. Zwei oder drei Figuren entsprechen hier zwar auch dem allzu typischen Klischee-Baukasten, aber da kann man drüberwegschauen und sich auf andere Aspekte konzentrieren.

Unter anderem gibt es einige hübsche Kamerafahrten, die die Zimmer von Ratna und Ashwin jeweils erzählerisch »verbinden«, was als mehrfach eingesetztes Stilmittel die Geschichte vorantreibt und nicht einfach auf dem Splitscreen-Lvel von Pillow Talk mit Rock Hudson und Doris Day hängenbleibt. Man merkt hier auch, dass die #MeToo-Debatte in der Welt auf lange Zeit etwas verändert hat, denn zwischen den Zeilen (oder Bildern) muss man auch daran häufig denken.