Das Mädchen,
das lesen konnte
(Marine Francen)
Originaltitel: Le semeur, Frankreich 2017, Buch: Jacques Fieschi, Marine Francen, Jacqueline Surchat, Lit. Vorlage: Violette Ailhaud, Kamera. Alain Duplantier, Schnitt: Minori Akimoto, Kostüme: Pascaline Chavanne, Production Design: Mathieu Menut, Art Direction: Olivier Geyer, mit Pauline Burlet (Violette), Géraldine Pailhas (Marianne), Alban Lenoir (Jean), Iliana Zabeth (Rode), Françoise Lebrun (Blanche), Raphaëlle Agogué (Louise), Barbara Probst (Jeanne), Anamaria Vartolomei (Joséphine), Margot Abascal (Philomèe), Mama Prassinos (Elisabeth), Sarah Fourage (Emilie), Théo Costa-Marini (Etienne), Auguste Wilhelm (Quentin), Guillaume Costanza (Antoine), Denis Coutadier (Camille), Fabrice Malepeyre (Maxime), 98 Min., Start: 10. Januar 2019
Le semeur, der Originaltitel dieses Films, bedeutet so viel wie »Der Besamer«, weil es im Film darum geht, dass eine Gruppe von Frauen sich plötzlich ganz auf sich alleingestellt findet. Bis es einen einzelnen Mann in ihre Mitte treibt und die Frauen einen Pakt abschließen. Natürlich passiert weitaus mehr im Film, aber die Kurzzusammenfassung trifft den Kern der Geschichte.
Zugegebenermaßen spielt dieser »Besamer«, mit korrektem Namen Jean (Alban Lenoir), keineswegs die Hauptrolle des Films, der auf der autobiographischen Erzählung der Violette Ailhaud beruht. Man erlebt die gesamte Geschichte aus der Sicht von Violette (Pauline Burlet), im mit reichlich Verspätung erschienenen Buch (1919 geschrieben) geht es um die Jahre 1851 bis 1855, und auch, wenn die Fähigkeit zu lesen eine nicht unwichtige Rolle im Verlauf der Geschichte spielt (etwas wichtiger ist nur, dass Violette auch schreiben konnte, denn sonst hätten wir nie von ihrem Abenteuer erfahren), so wirkt der dt. Verleihtitel doch etwas seltsam, aber natürlich weitaus romantischer und dem frühfeministischen Ansatz entsprechend. Man darf ja nie vergessen, dass so ein Filmtitel auch für Besucherzahlen sorgen soll, und ich kann mir gut vorstellen, dass nicht unerkleckliche Bevölkerungsschichten den Titel »Der Besamer« von vornherein abgelehnt hätten. Ich weiß noch, wie eine Bekannte von mir sich einst vehement weigerte, dem Film Fickende Fische ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
2019 Film Kino Text
Inszenatorisch muss man bemerken (und irgendwie auch loben), dass alles extrem hübsch hergerichtet ist. Der Aspekt »Kostümfilm« erschöpft sich zwar eher in derben Bauernkleidern, aber die machen auch in ihrer Schlichtheit einiges her. Und die Kadrage inkl. der durchdachten Positionierung der Darsteller oder der Lichteinsatz (oft Sonnenlicht) machen den Film zusammen mit den unaufdringlich gutaussehenden Darstellerinnen zu einem visuellen Kleinod.
Auf solch einen Satz folgt dann oft der Hinweis, dass die kunstgewerbliche Form die Tragweite des Inhalts vermissen lässt - aber hier zieht sich die unauffällige Perfektion durch viele Bereiche des Films, und aus einer vergleichsweise simplen Geschichte mit der klar erkennbaren Gefahr, dass die Romanze zwischen Violette und Jean schnell ins Kitschige abdriften kann, wird erstaunlich viel gemacht.
Der geschichtliche Hintergrund (Staatsstreich von Louis Napoleon Bonaparte gegen Widerständler) kleidet die Handlung zwar in eine ungewisse Atmosphäre, ist aber für die Kernhandlung kaum ohne Belang und spielt sich mehr am Rande ab.
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Dass sich Thema Nr. 1, die »weibliche Begierde«, zwischenzeitig im etwas plakativen Massenschmachten bemerkbar macht, wirkt zwar etwas wie aus Der Bachelor, Staffel 1852 und auch die Annäherung der beiden Turteltauben über die Literatur wirkt etwas aufgesetzt, aber der Film ist so grundsympathisch, dass man das durchgehen lassen kann.
Persönlich fand ich sehr interessant, wie sich die Handlung in unterschiedlichen Phasen entwickelt. Erst werden die Männer kaum gezeigt, ehe sie dann ganz verschwinden, alles formiert sich neu, und wenn gegen Ende dann doch einige der Ehemänner wieder auftauchen, und sich Gewitterwolken über dem Paradies zusammenziehen, wird dies auch clever umgesetzt.
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Was mich noch ein klein wenig am Film stört, ist, dass man die vielen Frauen nicht wirklich kennenlernt. Bzw. man oft zwar einen Einblick erhält, wie sich die eine oder andere verhält oder was sie besonders macht - man aber nicht ohne weiteres auch ihre Namen erfährt. Da ich die Vorlage nicht kenne, kann es aber auch sein, dass dies im Ausgangsmaterial bereits so war und man dieses nicht »verfälschen« wollte. Hat mich dennoch geärgert, denn es erschwerte mir auch die Arbeit, konkrete Notizen anzufertigen, denn mit so was wie »War das nicht die eine, die vorhin ...?« kann man im Nachhinein vergleichsweise wenig anfangen. Und mein Einblick in den Film war so, dass ich dieses »Manko« selbst mit einer Zweitsichtung per Stream oder Screener nicht ohne weiteres hätte ausgleichen können, denn die Informationsvergabe die Namen betreffend war durchgehend reichlich sparsam, was man aber als Filmemacherin, die alle Rollennamen und Darstellerinnen über das gedrehte Material hinaus kennenlernt, wohl nicht so wahrnimmt - es gibt ja auch genügend Filme, wo mir das unrealistische dauerhaft wiederholte Benennen der Figuren (»Bist Du es, René, mein Bruder?«) mindestens genauso auf die Hutschnur geht.
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Inmitten diverser Kostümfilme der letzten Wochen (Mary Shelley, Colette, Mary Queen of Scots und L'echange des princesses folgen) steht Le semeur qualitativ allein auf weiter Flur (wenn man von The Favourite absieht, der aber einen ganz anderen, weniger romantischen Stil bedient). Wer geschlechterpolitische Interessen verfolgt, bekommt vielleicht einen hauch weniger als erwartet, aber wer sich öfter mal gern in den cinematographischen Weiten der Geschichte verliert, sollte den Film nicht verpassen (und lieber einige der anderen, sich auch politisch gebenden Streifen auslassen).