Die Zeit,
die wir teilen
(Laurent Larivière)
Originaltitel: À propos de Joan, Frankreich, Irland, Deutschland 2022, Buch: François Decodts, Laurent Larivière, Kamera: Céline Bozon, Schnitt: Marie-Pierre Frappier, Musik: Jérôme Rebotier, Ausstattung: Aurette Leroy, Kostüme: Nathalie Raoul, mit Isabelle Huppert (Joan Verra), Lars Eidinger (Tim Ardenne), Freya Mavor (Joan Verra, 70er & 80er), Swann Arlaud (Nathan Verra), Madeleine Verra (Florence Loiret-Caille), James (Fabrice Scott), Doug (Stanley Townsend), Éanna Hardwicke (Doug, 70er), Dimitri Doré (Nathan Verra, 90er), Breffni Holahan (Virginia), Louis Broust (Nathan Verra, 80er), Yongsou Cho (Kazuo), Jorg Schnass (Fernseh-Interviewer), Leo Hanna (Fergus), 101 Min., Kinostart: 31. August 2022
Isabelle Huppert, die nächstes Jahr 70 wird, wurde im Februar auf der Berlinale für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Dazu zeigte man beim Berlinale Special auch ihren neuesten Film À propos de Joan. Das Plakat wirbt mit der außergewöhnlichen Zusammenarbeit Hupperts mit Lars Eidinger, der zwar auch schon ein paar internationale Rollen ausgefüllt hatte (nicht zuletzt für Olivier Assayas und Tim Burton), aber noch keine so prominente Paar-Rolle. Und Huppert und Eidinger haben auch ein paar intensive gemeinsame Szenen. Eigentlich hat Eidinger aber keine wirkliche Hauptrolle ergattert, seine Figur des Schriftstellers Tim Ardenne (mit der Eidinger offenbar einigen Spaß hatte) wirkt eher wie eine Fußnote auf die Titelrolle der Huppert, die gemeinsam mit Kollegin Freya Mavor, die die junge Joan spielt, eine unbestreitbare Hauptrolle ausfüllt. Eidinger / Ardenne ist zwar eine der zwei großen Lieben, die das Leben von Joan prägen, aber erst spät »hinzugekommen«.
Der Film beginnt mit Joan Verra, die unvermittelt die vierte Mauer durchbricht und direkt in die Kamera, zu den Zuschauenden spricht. Sie erklärt ihren Namen, ihre Herkunft, erwähnt ihr Geburtsjahr 1960 - und bringt eine gewisse Fiktivität der Filmgeschichte ins Spiel. Dann kommt schon die erste Rückblende zur jungen Joan, die in Irland den Taschendieb Doug (Éanna Hardwicke) bei seiner Tätigkeit beobachtet, woraus relativ schnell eine Liebesgeschichte wird.
Die Filmhandlung knüpft an in der Gegenwart (zu diesem Begriff werde ich noch kommen), wo Joan (Huppert) den gealterten Doug (Stanley Townsend) wiedertrifft. Und was die beiden sich zu sagen haben, wird gekonnt in eine Chronologie eingebaut, die den größtmöglichen Eindruck für die Handlung herausarbeitet. Während Doug in beiden Versionen an diesem Punkt aus dem Film verschwindet, wird Joans Leben von der Geburt ihres Sohnes Nathan geprägt, der beim Landhaus der Familie auftaucht, wo Joan sich aktuell allein verkrochen hat.
© 2022 - Camino Filmverleih
Die Zeitkonstruktion des Films wird etwas komplizierter. Nathan taucht immer wieder in ihrem Leben auf (dargestellt von drei unterschiedlichen Schauspielern), während die junge Joan ein Abenteuer mit ihren Eltern erlebt, wobei man erlebt, wie sehr Joans Mutter Madeleine (Florence Loiret-Caille), die aus ganz eigenen Gründen die Familie hinter sich lässt, erst Joans Zorn evoziert, dann aber auch ihre eigene Eigenständigkeit (und andere Charakterzüge) prägt.
À propos de Joan ist ein Film, in dem es darum geht, Grenzen zu überschreiten. Wie der deutsche Filmtitel es thematisiert, gehört dazu die Zeit, aber auch Länder und Sprachen werden mit einer gewissen Leichtigkeit überwunden. Im Film spricht man Französisch, Englisch, Deutsch und auch noch Japanisch, dass nicht alle Darsteller diese Sprachen auf dem gleichen Level beherrschen, hilft nicht unbedingt bei der Glaubwürdigkeit.
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Die unterschiedlichen Darsteller der selben Figuren ergänzen sich nicht immer perfekt. Die drei Nathans passen am besten zusammen, großartiges Casting / Schauspielarbeit. Isabelle Huppert und Freya Mavor passen vom Typ her gut, aber während die junge Joan, die einen Iren und eine Französin als Eltern hat, mit einem französischen Akzent bei ihren englischsprachigen Dialogen spielt, spricht die ältere Joan größtenteils Französisch, aber ohne den Anflug eines Akzents. Die beiden Dougs haben nur kurze Auftritte, aber Augen / Stimme / Typus unterscheiden sich sehr, trotz guter Leistungen muss man die Besetzung einfach hinnehmen ohne sie zu hinterfragen (und im Endeffekt ist die Rolle auch nicht so groß, dass man sich daran festhängen sollte).
Ich bin als Erbsenzähler bekannt, will es hier aber nicht übertreiben und fasse mich kurz: der Film will nicht in jedem Moment deutlich machen, was wann passiert. Aber die Gegenwart des Films spielt nicht 2022 oder 2020. Handys spielen keinerlei Rolle, alle Welt benutzt in der »Gegenwart« Festnetz-Telefone, die nicht einmal besonders modern wirken. Im Presseheft schreibt man mal, dass Joan vierzig Jahre durchlebt, aber ihr Sohn wird innerhalb der chronologisierten Filmhandlung nach einem Jahr geboren (Joan sagt an einer Stelle mal, dass sie zu jung war, um Mutter zu sein, meinetwegen ist Nathan also 1977 oder so geboren), und wenn er später bei ihr auftaucht, definiert die Mutter sein Alter als 30, viel mehr als 32 Jahre kommen da also nicht zusammen, und damit ist Joan auch (zu diesem Zeitpunkt) höchstens Ende Vierzig. Isabelle Huppert sieht zwar deutlich älter aus als Lars Eidinger, aber ihr behauptetes (oder aus den Hinweisen ermittelbares) Alter ist halt in etwa das, was Eidinger (1976 geboren) wirklich hat. Und so kann man im Presseheft nachlesen, dass Joan deutlich älter ist als Tim, aber im Film spielt das an keiner Stelle eine Rolle, einzig die Präsenz der Darsteller unterscheidet sich halt (selbst, wenn Eidinger natürlich mithalten will mit seiner Partnerin).
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Die Liebe zwischen der Verlegerin Joan und dem Schriftsteller Tim Ardenne (der angeblich schon auf Französisch und Deutsch Romane geschrieben haben soll, was ich nun so gar nicht glauben kann) spielt erst spät im Film eine Rolle, stellt aber vieles, was zuvor geschah, in den dramaturgischen Schatten.
Die Balance zwischen den einzelnen Teilen des Films gelingt nicht wirklich. Da ist die Liebe, die Joan nicht ernst zu nehmen scheint, da ist die Rückkehr des Sohns, der inzwischen einen Job in Montreal hat. Und auch Joans Mutter kommt wieder ins Spiel. Zu vieles muss gleichzeitig erzählt werden, und auch, wenn ein Twist die Zuschauenden zwingt, aktiv mitzudenken (nicht jeder ist hier ein verlässlicher Erzähler) und man dadurch auch einiges durchgehen lässt, so steht doch der emotionale Impetus nicht immer in einem guten Verhältnis zum erzählerischen Aufwand.
© 2022 - Camino Filmverleih
Hier und da gibt es großartige Momente. Rein inszenatorisch liebe ich eine Szene mit perkussiver Hintergrundmusik, wie von Castagnetten, die sich mit den gut zu vernehmenden Schritten von Joan zu etwas neuem, besonderen verbinden. Interpretatorisch und für die Handlung sehr wichtig (und auch bestens eingefügt durch eine gegensätzliche visuelle Spiegelung) ist eine Szene mit einer Maus (mehr mag ich nicht spoilern), die ähnlich abgedreht wirkt wie die andere »Tierszene« im Film. Doch dies sind im besten Fall kleine intensive Farbtupfer auf einer eher sepia-blassen Leinwand, deren Gesamtbild keinen gelungenen Eindruck hinterlässt.
Während Isabelle Huppert hier häufig völlig überwältigt von ihren Erinnerungen gezeigt wird, kann die komplette Filmhandlung als Ganzes (man beachte auch die Abschlussszene, die viel zu harmlos-versöhnlich verpufft) nicht überzeugen.