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21. Dezember 2022
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Verlorene Illusionen (Xavier Giannoli)


Verlorene Illusionen
(Xavier Giannoli)

Originaltitel: Illusions perdu, Frankreich 2022, Buch: Xavier Giannoli, Adaption der Dialoge: Xavier Giannoli, Jacques Fieschi, Lit. Vorlage: Honoré Balzac, Kamera: Christophe Beaucarne, Schnitt: Cyril Nakache, Szenenbild: Riton Dupire-Clément, Kostüme: Pierre-Jean Larroque, mit Benjamin Voisin (Lucien de Rubempré), Cécile de France (Louise de Bargeton), Vincent Lacoste (Etienne Lousteau), Xavier Dolan (Nathan), Salomé Dewaels (Coralie), Jeanne Balibar (Marquise d'Espard), Gérard Depardieu (Dauriat), André Marcon (Baron de Châtelet), Louis-Do Lencquesaing (Finot), Jean-François Stévenin (Singali / Braulard), 150 Min., Kinostart: 22. Dezember 2022

Wir haben das 19. Jahrhundert, der junge Lucien (Benjamin Voison) hat sich ganz der Dichtkunst verschrieben und verzaubert auch das Herz der eigentlich vergebenen Louise (Cécile de France) mit seinen Versen. Doch abgesehen davon kann der aus einen Arbeiterfamilie stammende Schöngeist mit seinem Talent in der Provinz wenig anfangen. So lässt er den Familienbetrieb, eine Druckerei, hinter sich, und versucht sich in Paris, wo er als Theaterrezensent durch die richtigen Beziehungen zwar schnell aufsteigt, aber sich selbst und die Dichtkunst im Grunde verrät.

Die klassische Literaturvorlage von Honoré de Balzacs Illusions perdu wird mit prunkvoler Ausstattung und vielen Stars des französisch(sprachig)en Kinos zum Abräumer der Saison (nicht weniger als sieben Césars) und weiß trotz Überlänge zu unterhalten - aber um wirklich große Filmkunst handelt es sich deswegen noch nicht. Zwar gibt es Momente, in denen das Material durchaus modern wirkt (»Was für eine Chance gibt es für eine Presse ohne Papier und Tinte?«), aber im Großen und Ganzen könnte der Film auch ein Vertreter jenes Kinos sein, das zur Zeit der nouvelle vague von den jungen aufstrebenden Filmschaffenden und Kritikern so verpönt wurde. Viel zu schwülstig und auf Schauwerte bedacht, aber beim Einsatz inszenatorischer Mittel mit wenigen Ideen. Gerade die reichlich eingesetzte Erzählerstimme kann abgesehen von einigen gelungenen ironischen Brechungen zu dem, was im gleichen Moment auf der Leinwand gezeigt wird, eigentlich nur an die über die Jahre entwickelten Regeln, wie man das audiovisuelle Medium besser nicht einsetzt (wenn man es vorantreiben will), erinnern.

Die Anzahl der César-Nominierungen (Stücker 15!) ist sogar neuer Rekord, aber ähnlich wie in der deutschen Filmindustrie neigen auch die Franzosen dazu, sich am liebsten selbst zu feiern, wenn mal die Kritikerstimmen versöhnlich sind und das Publikum geneigt. Wegen der gefühlt überwundenen Corona-Pause muss man das Filmbusiness ja auch mal wieder in Erinnerung zurückrufen, ehe man neue und alte Generationen gänzlich an die Streaming-Dienste verliert.

Verlorene Illusionen (Xavier Giannoli)

© Cinemien

Ich bin sicher kein Streaming-Experte. Mein Serienwissen stammt aus vergangenen Jahrzehnten, zuletzt konnte ich da vielleicht in den Nuller-Jahren auftrumpfen. Und mit einem gewissen trotzigen Stolz neige ich auch dazu, Serien, die so richtig abgefeiert werden, rigoros zu ignorieren. Breaking Bad, Lost, Game of Thrones? I don't care at all. Gerade und nicht zuletzt der Boom an Comicverfilmungen ist mir einfach zu viel, auch wenn ich viele der Vorlagen akribisch gesammelt habe. Aber irgendwann im Leben habe ich für mich entschieden, dass ich bei einem Material, das mich lange Jahre meines Lebens begleitet hat, nicht auch noch jedes Audiobook, jede gerebootete Serie undsoweiter verschlingen muss. An der Stelle komme ich immer mit dem alten Stephen-King-Zitat auf die Frage, was er dazu sagt, was aus seinen Büchern geworden ist: »Wieso? Stehen doch alle noch im Regal?!?«

Im Zuge meiner literarischen Bildung habe ich auch so manches französische Werk gelesen, aber zu Monsieur Balzac oder die Herren Hugo oder Simenon bin ich nie durchgekommen. Ich gebe zu, ich habe auch ein paar Klassiker verpasst, weil ich lieber ein eher mittelmäßiges Genrewerk studiert habe, aber Kanon-Abhakerei war allerhöchstens während des Anglistik-Studiums eine veritable Herangehensweise für mich. Und so gehen auch manche Nuancen, was den generellen Stil von Balzac angeht, und was Regisseur Xavier Giannoli (Quand j'étais chanteur, Marguerite) hier besonders geschickt gemacht haben mag, womöglich an mir vorbei. Für mich bewirkte sogar die erwähnte Corona-Pause (die ich eben nicht durch Stream-Binging kompensierte), dass ich einige französische Darsteller in diesem Film, die ich in meiner aktiven Filmkritikerphase (die zwanzig Jahre vor Corona, größtenteils hier auf satt.org archiviert) sehr verehrt habe, nicht einmal erkannt habe. Bzw. sie nicht korrekt zuordnen konnte (ich gehöre ja nicht zu den Leuten, die sich vor dem Film noch mal die gesamte Besetzung nebst Filmographien ins Gedächtnis rufen).

Und so tauchen hier etwa Xavier Dolan oder Jeanne Balibar auf, und ich bin einfach raus aus der Materie. Dass ich Depardieu oder de France erkannt habe, würde ich mir jetzt nicht als Errungenschaft zählen. Dass mein jahrelang geschultes Gesichtergedächtnis im Filmbereich durch zwei Jahre Quasi-Abstinenz nicht mehr funktioniert, fühlt sich für mich ein wenig wie Altersdemenz an. Aber wen außer mich selbst und vielleicht eine Handvoll guter Freunde interessiert das eigentlich? Mir doch wurscht, ich genieße einfach mein Hobby-Kritiker-Dasein und schreibe über das, was mir gerade berichtenswert erscheint (selbst, wenn mir nicht entgeht, dass ich zu häufig über den selben Kram rummecker).

Zurück zum Film (wem diese meine aktuelle Lieblingsfloskel nicht passt, der soll sich halt noch ein paar Podcasts reinpfeifen, auch ein »Medium«, das mir komplett am Hintern vorbeisegelt). Da ich neben Anglistik auch Filmwissenschaft und Publizistik studiert habe, wirkt Illusions perdu ja eigentlich wie für mich gemacht. Das Kritikergewerbe, wie es hier beschrieben wird, hat zwar so komplett gar nichts mit meinen Erfahrungen zu tun, aber zumindest finde ich Anknüpfungspunkte in der Geschichte. Alles ein bisschen fett aufgetragen und schwülstig / melodramatisiert, aber so mag es das junge wie alte Publikum wohl.

Verlorene Illusionen (Xavier Giannoli)

© Cinemien

Ich muss zugeben, mein größtes Problem beim Film war, dass mich die »Aufstieg und Fall«-Dramaturgie nicht wirklich erreichte. Selbst bei eingeschränkter Beziehungserfahrung kommt die Story von der ersten großen Liebe und der zweiten mit einer jüngeren Frau mir jetzt nicht innovativ vor, das Ringen mit dem Gewissen und der Reinheit der Dichtkunst ist selbst bei den einigermaßen hohen Ansprüchen, die ich zum Beispiel im Bereich Film habe, nicht wirklich ein Thema, das mein Herzblut in Wallung bringt, und ans Schicksal des jungen Helden habe ich auch nicht mein Herz verloren.

Es ist ein uralter und eigentlich immer unfairer Vergleich, aber ein bisschen war der Kinobesuch wie der Auffahrunfall, an dem man vorbeifährt, und wo man auch nicht wegschauen kann. Nur halt als hehre Filmkunst verkauft.

Verlorene Illusionen (Xavier Giannoli)

© Cinemien

Giannoli und seine Schauspieler stecken vermutlich sogar Herzblut hinein in diese Veranstaltung, aber so richtig verzücken können sie mich nicht. Da ist ja schon der Tisch, der für die von Depardieu gespielte Figur sonderangefertigt wurde (so jedenfalls mein Eindruck) ein Höhepunkt des Werks.

Ich mache mir während einer quasi-professionellen Filmsichtung (ich gehe auch mal nur zum Spaß) jeweils Notizen, und hier war ich vor allem mit Filmdialogen und Bonmots des Erzählers besch√§ftigt, auch, wenn das exakt das ist, was ich dem Film zum Vorwurf mache, auch wenn es vermutlich notwendig ist, um den Geist von Balzac zu bewahren.

Andererseits finde ich es sehr verdächtig, wenn man der Pariser Presse »Schlagworte und Parolen« vorwirft, aber im Grunde mit den selben rhetorischen Waffen arbeitet. Meine Kenntnis reicht wie gesagt nicht so weit, um festzumachen, ob das schon in Balzacs Buch eine Tendenz war (»Sie liebte seine Hände und er lernte schnell.«), aber zumindest dem Film kann man dieses vorhalten.

Verlorene Illusionen (Xavier Giannoli)

© Cinemien

Giannolis Film ist im Grunde eine Mischung aus alten und neuen Trends. Nur dummerweise größtenteils Trends, die diesen speziellen Kritiker nicht interessieren.

Was dies in der Welt dieses Films bedeutet, möchte ich jetzt nicht ausbuchstabieren. Ich sage nur: ich gehöre nicht zu den Kritikern, die ein Werk absichtlich nicht rezipieren, um sich nicht »beeinflussen« zu lassen. Und wenn sie dieses mein Geschreibsel jetzt alles gelesen haben, müssen sie selbst entscheiden, ob sie mir glauben oder sich ein eigenes Bild machen wollen.

Ich find' beides okay.