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12. Juli 2023
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Rodeo (Lola Quivoron)


Rodeo
(Lola Quivoron)

Originaltitel: Rodeo, Frankreich 2022, Buch: Lola Quivoron, Antonia Buresi, Kamera: Raphaël Vandenbussche, Schnitt: Rafael Torres Calderon, Musik: Kelman Duran, Kostüme: Rachèle Raoult, Szenenbild: Gabrielle Desjean, Supervising Art Director: Martin Foley, mit Julie Ledru (Julia), Yanis Lafki (Kais), Antonia Buresi (Ophélie), Cody Schroeder (Kylian), Louis Sotton (Ben), Junior Correira (Manel), Ahmed Hamdi (Mous), Dave Nsaman (Abra), Mustapha Dianka (Clark), Mohamed Bettahar (Amine), Chris Makodi (William), Gianni Caira (Sergio), Quentin Arizzi (Marvin), Brice Straehli (Yan), Sébastien Schroeder (Domino), 105 Min., Kinostart: 13. Juli 2023

»Das ist so seltsam, dieses Mädchen ist eine große Lügnerin. Sie hat mir ihre Lebensgeschichte erzählt, und das ist die Geschichte meines Films.

Laut Presseheft sind dies die Worte der Regisseurin Lola Quivoron nach ihrem ersten Treffen mit Julie Ledru, einer Bikerin und der späteren Hauptdarstellerin ihres Debütfilms Rodeo der letztes Jahr in Cannes in der Sektion »Un certain regard« mit einem Preis bedacht wurde. Quivoron teilt diese Einschätzung der Frau mit, die jetzt nicht nur ebenfalls im Film mitspielt, sondern auch den Drehbuch-Credit mit der Regisseurin teilt. Bevor ich mich in weiteren Details verliere, möchte ich klarstellen, dass ich bei manchen Statements von Lola Quivoron nicht unbedingt das Gefühl habe, dass sie die Wahrheit über alles stellt.

Im Presseheft, das man zu keinem Zeitpunkt über die eigenen Seherfahrungen mit dem Film stellen sollte, erfährt man viel über die Hintergründe des Films. Quivoron hat offenbar schon sehr unterschiedliche kürzere Filme gedreht, in dem es hier und da um seltsame Männerwelten geht, in denen Frauenfiguren versuchen sich zu behaupten. Wobei die Regisseurin wohl versucht, hinter die Kulissen zu schauen. Mal geht es um das dominante und gewalttätige Verhältnis zwischen einem kleinen Jungen und einem Kampfhund, den er ausbilden will. Oder um eine Scharfschützin, die zwischen diversen Männern in einem Schießstand bestehen muss.

Rodeo (Lola Quivoron)

© Plaion Pictures

Bei Rodeo, an dem sie laut eigenen Angaben fast fünf Jahre lang gearbeitet hat, begann alles mit Besuchen bei Treffen von jungen Männern, die mit ihren Motocross-Maschinen halsbrecherische Mutproben durchführten. Frauen saßen hier höchstens mal auf dem Rücksitz oder beobachteten vom Straßenrand aus. Hieraus entwickelte sich der Wunsch der Regisseurin, in solch eine Welt eine starke Frauenfigur einzuführen. Noch in der Recherche-Phase ihres Drehbuchs fand sie über Social-Media-Kanäle Julie Ledru, die, wie oben schon ausgeführt, im weitesten Sinne Erfahrungen gemacht hatte, die dann das Drehbuch bereichern konnten.

Für ihren »hyper-naturalistischen« Stil, bei dem sie ein Cinemascope-Format von 1:2,39 mit fast dokumentarischen, von erfahrenen Stuntexperten gestützten Aufnahmen kombiniert, spielt Quivoron mit Fragmentation, die mir beim ersten Betrachten eher etwas ungewollt erschien. Die Jump-Cuts wirken, als wenn das Material nicht mehr hergab, die Ellipsen wirken wie Widersprüche in der Handlung, die man einfach so hingenommen hat.

Rodeo (Lola Quivoron)

© Plaion Pictures

Im Presseheft spricht Lola Quivoron über sich, ihre Hauptdarstellerin und die von ihr gespielte Figur, Julia. Alle drei seien non-binäre Menschen, Julie bezeichnet sie außerdem als Chamäleon, das ihren Körper mannigfaltig einsetzen kann. Vielleicht habe ich mich nicht ausreichend mit non-binären Menschen befasst oder zu wenige in meinem Umfeld, aber die Filmfigur Julia habe ich so nicht aufgefasst. Zwar benimmt sie sich zu Beginn sehr maskulin, spielt dann auch mit ihrer femininen Seite, wenn sie beispielsweise wie eine harmlose junge Frau auftritt, wenn sie ein Motorrad stehlen will, und im Verlauf des Films ist auch ihre sexuelle Orientierung nicht in Stein graviert.

Aber das Chamäleonhafte wirkte auf mich wie schwer miteinander zu synchronisierende Aspekte der Filmfigur, was im Presseheft als »die Komplexität dieser Figur [...], die gleichzeitig gestört, gewalttätig und manipulativ ist« beschrieben wird. Die Regisseurin selbst hat wohl auch ein bestimmtes Verhältnis zur Gewalt, und zu ihrer ganz persönlichen Rolle in der Gesellschaft, was natürlich umfassend in den Film eingeflossen ist.

Rodeo (Lola Quivoron)

© Plaion Pictures

Meine Kritik übernimmt hier die Rolle des Pressehefts, zumindest, wie es sich auf meine Rezeption des Films auswirkte. Es gibt Leute, die schauen erst den Film und lesen dann womöglich diesen Text, andere lesen erst und schauen dann. Und irgendein Teil der einen Gruppe kann vielleicht auch nachvollziehen, was mir geschah. Früher habe ich gern gesagt, dass ein Film immer auch funktionieren muss, ohne dass man eine Gebrauchsanweisung dazu geliefert bekommt. Er muss nicht exakt dasselbe erreichen, er kann auch ganz anders funktionieren. Dann bin ich schon zufrieden.

In diesem Fall kann ich mit dieser Grundeinstellung, die auch schon mal als »borniert« abgetan wurde, übel auf die Fresse fliegen, denn meine Unfähigkeit, den Film zu »lesen« (und an dieser Stelle will ich keineswegs ausschließen, dass die Filmemacher eine Teilschuld trifft), wird im Presseheft gemeinerweise schon antizipiert.

Rodeo (Lola Quivoron)

© Plaion Pictures

Wie die Regisseurin sehr eloquent ausführt, will sie Paradigmen und Stereotypen dekonstruieren. Der Film und die Figur der Julia sollen überraschen, sich den Genres, Codes und Erwartungen entziehen. Man kann sie nicht festnageln, kein statisches Bild von ihr erschaffen. Das, was ich also als Schwächen des Films auffasste, gehört zu seinen Stärken (zumindest, wenn man - zum Beispiel auch im Gespräch - im Nachhinein von der Gebrauchsanleitung des Films erfährt).

In Presseheften wie in Kritiken gehört es nicht unbedingt zum guten Ton, das Ende eines Films zu sezieren. Entsprechend gibt es dazu auch wenig Interpretationshilfe für mich (aber durch die Blume wird schon einiges ausgesagt). Spätestens bei den letzten zwanzig Minuten hat mich der Film ziemlich verloren. Zum einen gibt es da einen übernatürlichen oder metaphorischen Moment, der mich so gar nicht überzeugte, zum anderen liefert Julia ganz zum Schluss noch mal die vielleicht größte Überraschung des Handlungsverlaufs, der in der Interpretation der Regisseurin sicherlich komplett sinnvoll erscheint, für mich aber den Film wie eine seltsame Mischung aus Lost Highway und einem Märchen über ein Waisenmädchen erscheinen lässt.

Die Gebrauchsanweisung hilft eine Menge, ich habe jetzt begriffen, dass der Staubsauger eigentlich ein Entsafter ist. Aber es bleiben mir zu viele Kerne im Teppich.