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18. September 2024
Thomas Vorwerk
für satt.org


  The Substance (Coralie Fargeat)


The Substance
(Coralie Fargeat)

Originaltitel: The Substance, USA 2024, Buch: Coralie Fargeat, Kamera: Benjamin Kracun, Schnitt: Coralie Fargeat, Jéróme Eltabet, Valentin Féron, Musik: Raffertie, Kostüme: Emmanuelle Youchnovski, Production Design: Stanislas Reydellet, Special Make-Up Effect Designer: Pierre Olivier Persin, mit Demi Moore (Elisabeth Sparkle), Margaret Qualley (Sue), Dennis Quaid (Harvey), 140 Min., Kinostart: 19. September 2024

Das ist so ein Film, zu dem ich eine Menge schreiben werde. Aber dabei versuche ich dennoch, nicht gleich alles auszuplaudern. Statt die plot points abzuhandeln, kümmere ich mehr um die Details, denn warum sollt ihr euch in einen 140-Minuten-Film setzen, wenn ihr von Anfang an darauf wartet, was in der letzten Viertelstunde abläuft?

Ich gehe ja gern mit möglichst wenig Vorwissen in die zwei, drei Filme, die ich mir im Monat anschaue. Oft reicht mir der Name der Regie führenden Person, oder vielleicht ein paar Darsteller, die ich mag. Bei The Substance waren es die Besetzung (Demi Moore, Margarel Qualley, Dennis Quaid) und der Filmtitel. Man hat so eine vage Idee, worum es gehen könnte, aber ich habe es mir verkniffen, mir den Trailer anzuschauen, und bei der Regisseurin Coralie Fargeat hat mir gereicht, dass ich nie von ihr gehört hatte. Also eine vermutlich junge Person, die mit diesen drei Darstellern eine Geschichte erzählen wollte, die über zwei Stunden braucht. Man muss auch mal was wagen, und ich kann so viel vorwegnehmen: das ist jetzt kein neuer Lieblingsfilm von mir geworden, aber wohl einer der Streifen, die man 2024 unbedingt sehen sollte, wenn man halbwegs mitreden will beim Thema Kino.

The Substance (Coralie Fargeat)

© Mubi Deutschland

Der Anfang des Films ist sehr visuell und ausdrucksstark. Es beginnt mit einem rohen Ei, das in »Spiegelei-Manier« in Großaufnahme auf einem Tisch oder so liegt. Mit einer Spritze wird eine neongrüne Substanz in den Dotter gespritzt, und dann passiert etwas, was man ähnlich noch mehrfach im Verlauf des Films sehen wird. Die Regisseurin bereitet uns also gut vor.

Die vielleicht wichtigste Prämisse des Films wird ebenfalls visuell vermittelt. Demi Moore spielt hier die implizit 50jährige Elisabeth Sparkle, aber bevor man sie jemals sieht, schaut man dabei zu, wie ihr Stern auf dem »Walk of Fame« vorbereitet wird. Das sieht man von oben, die Kadrierung wird reichlich lang gehalten, und aufgrund der Aussage dieser Bilder will ich auch nicht über gewisse Unstimmigkeiten meckern. Man erlebt, wie die Steinplatte jungfräulich erschaffen wird, sieht dann, wie Elisabeth im Scheinwerfergewitter diese Auszeichnung vorstellt, wie ihre Fans dahinpilgern... aber auch, wie Regen und Schnee langsam dazu führen, dass (wie man so schön sagt, auch wenn es hier gar nicht recht passt) »der Lack ab ist«. Irgendwann fällt einem Passanten dann ein Hamburger druff, und man muss ihn schon loben, dass er einen Großteil der Sauerei wegräumt.

Dann hat Demi Moore ihren ersten Auftritt, sie ist wie einst Jane Fonda die Vorturnerin bei einer Aerobic-Show. Demi Moore ist fünf Jahre älter als ich, aber sie hat gut auf sich aufgepasst. Trotzdem fällt auf, dass die anderen vier Tänzerinnen auch geschätzt klar über 35 sind. Keine Ahnung, ob das unter Rücksicht läuft, oder wie sich das exakt ins weitere Geschehen einreihen lässt. Ein großes Problem beim Medium Film ist halt, dass die Filmemacher sich immer zwischen dem entscheiden müssen, was sie erzählen wollen ... und zwischen dem, was sie zeigen wollen.

Das ergibt vielleicht nicht nicht augenblicklich Sinn, aber über das Alter der Mittänzerinnen wurde halt irgendwann im Produktionsprozess entschieden (Drehbuch, Casting), und wenn man später über diese Szene nachdenken sollte, entsteht da halt ein gewisser Widerspruch. Ich achte auf Details, und ich ärgere mich auch, wenn man mir ein X für ein U vormachen will, und deshalb erwähne ich das, um den Lesenden, die den Film gesehen haben, die Option zu geben, meine Gedanken nachzuvollziehen - ohne, dass ich ich sie bis aufs letzte I-Tüpfelchen niederschreibe.

Nach der (hochprofessionellen) Beendung der Aerobic-Show wandelt Elisabeth nahe des Studios durch einen langen Flur, der die erste klare Referenz des Films auf das Werk von Stanley Kubrick und speziell The Shining ist. Und man sieht eine lange Galerie von gerahmten Plakaten, mit denen Elisabeth ihre Show umworben hat. Hier viel mir auf, dass man wohl nicht 1:1 alte Bilder von Demi genommen hat (oder zumindest deren Köpfe auf turnmäßige Körper retuschiert hat). Und das zeigt recht schön, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen hatte, um was es in diesem Film geht...

Denn wie ihr der von Dennis Quaid reichlich unsympathisch dargestellte Produzent Harvey ziemlich unmissverständlich zu verstehen gibt: man will sie durch eine jüngere Nachfolgerin ersetzen. Diese Info ist noch nicht komplett durchgesickert, als es einen weiteren sehr visuell umgesetzten Moment im Film gibt: Elisabeth fährt im Auto an einer großen Plakatwand vorbei, die sie zeigt, und aus unerfindlichen Gründen sorgen zwei Arbeiter auf einem Leitergestell dafür, dass die Papier-Elisabeth quasi ihr Gesicht verliert wie Elemental Girl in The Sandman #20, »Façade«. Und dieser Schock wird auch inszenatorisch sehr (sorry!) plakativ an die Zuschauer weitergereicht. Das ist aber auch einer der Punkte, wie Fargeat clever ihre Geschichte vorantreibt. Fürs beste Drehbuch wird man ja nicht ohne ein gewisses Talent in Cannes ausgezeichnet.

(Eine kleine Entschuldigung an die nicht comicgeschulten Leser: Der Sandman-Bezug eben war nicht nur nötig, um die Schreibweise »Fassade« zu vermeiden. Man kann auch mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen, dass die Regisseurin den Comic kennt. Immerhin führte sie 2022 Regie bei einer Folge der Streaming-Sandman-Verfilmung, und zwar bei der Episode »Collectors« (das ist die Adaption von Heft #14, übrigens die Stelle, an der ich in die (Comic-)Serie einstieg. Und ich bin mir einigermaßen sicher: wer bis Heft #14 liest, der wird nicht vor den Zwanzigern aufhören...)

The Substance (Coralie Fargeat)

© Working Title

Die härtesten Spoiler dieses Textes sind in den Bildern zu sehen. Ich will es mal so abkürzen: Elisabeth hat, gemeinsam mit der geheimnisvollen »Substanz«, eine gewisse Mitwirkung beim Casting ihrer Nachfolgerin Sue (Margaret Qualley in ihrem zweiten prägenden Kinoauftritt dieses Kinojahres nach Drive-Away Dolls)

Bei der Substance, die Elisabeths Leben ändern wird, spielt die Spritze mit dem grünen Zeug eine Rolle, und Elisabeth und Sue agieren wie die böse Hexe aus Schneewittchen und Cinderella, aber transferiert in einen Literaturklassiker aus dem Jahr 1886 (Viktorianischer Sensationalism, auch ein Fachgebiet aus meinem Anglistik-Studium). Aber zurück zu gewissen filmischen Vorbildern: so wie Cinderella vor Mitternacht zurück vom Ball sein soll, gibt es für die »Substanz« drei superklare Regeln, die man befolgen muss. Und ich musste sofort an die Gremlins denken. Wird jemand nach Mitternacht essen? Bestimmt. Wird jemand nass werden? Klaro! und die andere Regel... naja, wofür sind Regeln denn da? Um gebrochen zu werden...

Ich spule jetzt mal anderthalb Stunden vor: und es gibt auch hier die Ballszene mit der Mitternacht-Regel. Und zu einem Zeitpunkt im Film, als längst noch nicht alles superklar war, wusste ich: die Filmemacher werden nicht auf diese Szene verzichten können. Ich war nur nicht darauf vorbereitet, dass es so aussieht wie eine andere Stephen-King-Verfilmung, die Peter Jackson, David Lynch und Eli Roth nie gemeinsam gedreht haben...

The Substance (Coralie Fargeat)

© Mubi Deutschland

The Substance ist ein Film, der nicht vor Extremen zurückschreckt. Im Gegenteil: er sucht sie, und schont auch das Publikum dabei nicht. Auf diesen Spaß aus der Kategorie »Ich konnte bei dem Autounfall einfach nicht wegsehen« muss man sich einlassen, wer zu zimperlich ist, wird ein Problem bekommen. Diese Art von satirischem Body-Horror tut weh, ob man schon Erfahrungen mit dem Verfall des eigenen Körpers gemacht hat oder nur bei anderen Menschen beobachten durfte, dass Jugendlichkeit ein Attribut ist, das man selbst mit unendlichem finanziellen Rückhalt nicht ewig erhalten kann.

Die Königin bei Schneewittchen ist vermutlich eine der frühesten Figuren der Literaturgeschichte, die sich ganz konkret mit diesem Problem auseinanderstzen musste. Auffällig dabei: sie ist hier die Schurkin, während Schneewittchen als Heldin dasteht (in modernen Adaptionen des Stoffs wird das gern hinterfragt oder umgekrempelt. Was The Substance dazu beiträgt, was zuvor (meines Wissens) nicht thematisiert wurde: Schneewittchen wird ja irgendwann auch altern... von wegen »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute...«

The Substance (Coralie Fargeat)

© Mubi Deutschland

Jetzt noch einige Worte dazu, warum The Substance für mich kein Lieblingsfilm werden wird (wie ich es von anderen Horrorfilmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari, Repulsion oder Alien durchaus behaupten würde): ein Problem bei modernen Filmen ist, dass man immer noch einen druffsetzen muss. Es besteht eine andauernde Konkurrenz zum Rest der Filmgeschichte: wenn irgendetwas abgedrehtes schon ein mal in einem anderen Film gezeigt wurde, so muss man das übertreffen, teilweise ohne Rücksicht auf den eigenen Film (das trifft natürlich nicht alle Filmemacher, aber leider sehr viele).

Was ich bei einem Film wie The Substance viel interessanter finde, ist zum Beispiel, wie die Regisseurin eigene Wege findet, ihre Geschichte zu erzählen. Das Intro mit der grünen Ampulle ist zwar ohne CGI-Effekte schwer vorstellbar, aber man nutzt hier neue Technologie, um etwas nicht unbedingt »spektakuläres« zu schaffen, sondern etwas, was man so einfach selten gesehen hat (es gibt in der Filmgeschichte durchaus Filme mit so einer klinischen Atmosphäre, der mad scientist ist ja ein seit über 200 Jahren gern genutztes Kernstück des Horrorgenres). Für mich als Filmwissenschaftler ist die rein filmische Erneuerung deutlich wichtiger als der ganze schneller-bunter-lauter-Zirkus.

Und da hat Coralie Fargeat durchaus Potential, aber ihre Inspirationen sind mir zu deutlich und zu eingeschränkt. Ich bin ein großer Kubrick-Fan (habe Ende der 1980er schon meine Abitur-Prüfung in Kunst über ihn gemacht) und liebe auch The Shining, aber so oft, wie Fargeat sich zum Beipiel ganz konkret an diesem Film bedient (bis hin zu konkreten Einstellungen wie Jack Torrance an der Kühlraumtür) ist das für jene, die die Referenzen nicht erkennen, nicht so spannend. Aber für jemanden, der im Kinosessel die meisten Anspielungen erkennt (und als Kritiker auch notiert), lenkt das einfach vom Film selbst ab. Und schmälert ihn. Da hätte ich lieber eigene Idee gesehen und vielleicht auch den Mut, die (guten) Filmideen nicht nur bis zum Extrem durchzuexezieren, sondern lieber eine eigene, persönlichere Duftmarke zu setzen.

Ich befürchte aber, dass es heutzutage notwendig ist, die Extreme zu suchen, wenn man sich einen Namen als Regisseur machen will. Ich persönlich feiere ja auch Regisseure wie James Marsh oder Bennett Miller ab, die eigene Wege finden, ganz unterschiedliche Geschichten zu erzählen (um mit der Filmgeschichte zu sprechen: sie vereinigen die Vielseitigkeit von Howard Hawks mit der gut genutzten Vorbereitungszeit von Kubrick), deren Namen aber selbst einigen Filmkennern nichts sagen, weil ihre Filme nicht so spektakulär, nach Aufmerksamkeit heischend sind, sondern sich ganz auf das Publikum konzentrieren, das sich für die eine Geschichte zwei Stunden oder zwei Wochen begeistern kann. Und beim nächsten Film werden das wieder andere Leute sein!

Natürlich bin ich nicht so hochgradig bekloppt, so etwas von beispielsweise Coralie Fargeat zu erwarten (letztlich wäre das der Karriere ja auch nicht unbedingt dienlich), aber ich wünsche mir halt mehr FilmemacherInnen, die sich in der Wahl ihrer Mittel etwas zurückhalten und dafür für den einzelnen Film die eigene Filmsprache entwickeln. Im Ansatz erkennt man das auch in The Substance, aber das um Aufmerksamkeit heischende Spektakel übertüncht diese Ansätze leider.