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Oktober 2000
Marc Degens
für satt.org

Earth Worm Jim 3D
Mit deutscher Spielanleitung
Interplay Productions 1999
ab 29,- DM

Earthworm Jim 3D
Earth Worm Jim
wurde erfunden
von Douglas Ten Napel

Earthworm Jim 3D


Es ist geschafft, vollbracht, vollendet: Ich habe den Endgegner von „Earthworm Jim 3D“ besiegt, heissa! Nun kann ich wieder friedvoll wie ein unschuldiges Kind schlafen, tief und fest, zumindest diese Alpträume sind ein für alle mal überwunden! Letztere Feststellung ist natürlich nicht nur literarisch übertrieben, sie ist gleichfalls auch faktisch falsch, denn wie wir alten Freudianer wissen, träumt man nie von bevorstehenden, sondern bloß von bereits erfolgreich bestandenen Prüfungen. Derart habe ich beispielsweise während meines Studiums lange Zeit davon geträumt, daß an meiner Hochschule entdeckt wird, daß ich noch gar nicht das Abitur abgelegt habe, weshalb ich gezwungenermaßen nun noch einmal die Schulbank drücken muß. Diese „Ehrenrunde" war aber alles andere als ein Zuckerschlecken im Pfeifferschen Sinne, nein, ganz im Gegenteil, während des Schuljahres zeichnete sich sogar eindeutig ab, daß ich schon wieder nicht die geforderten Leistungen erbringen und also erneut durch mein Abitur fliegen werde. Das wiederum bedeutete, daß ich auch nicht länger studieren durfte und mit Schimpf und Schande von der Universität gejagt werden würde und mir also schleunigst eine andere Betätigung - eine eigentliche Arbeit - suchen muß, einen Brotjob! Und Brotjobs ohne Perspektive heißen „deadend jobs", sind scheiße und enden erst mit dem Tod. Man kann sich sicher leicht ausmalen, wie glücklich und beschwingt ich jedes Mal war, als ich nach dem Wachwerden am anderen Morgen realisierte, daß mein Abitur längst in trockenen Tüchern lag, yeah! Ja, das Hirn ist ein seltsamer und häufig auch gefährlicher Ort, das weiß auch der arme Erdenwurm Jim, dessen Geschicke man in dem furiosen Nintendo 64-Spiel "Earth Worm Jim 3D" lenken darf. Diejenigen, die schon eine Super-Nintendo-Konsole besaßen, werden die bizarren SNES-"jump`n`run"-Spiele „Earthworm Jim“ und „Earthworm Jim 2“ noch in allerbester Erinnerung haben, zwei Klassiker, die so einfallsreich und abstrus wie sonst kaum ein anderes Nintendo-Spiel waren. Demzufolge war die Erwartungshaltung der Fans (mich eingeschlossen) auch außerordentlich hoch, und vielleicht hat sie mit dazubeigetragen, daß der Erscheinungstermin der N-64-Neuauflage immer wieder weiter und weiter hinausgeschoben wurde. So lange, daß, als das Spiel endlich erschien, kaum jemand Notiz davon nahm und selbst die Fachpresse über dieses fulminante Ereignis fast geschlossen hinwegsah.

Und das ist wahrlich bedauerlich, denn das Spiel ist ein echtes Meisterwerk, und bietet ein Feuerwerk ulkigster Ideen, hanebüchenster Einfälle und merkwürdigster Geistesschöpfungen. Wie bei den Vorgängern müssen wir erneut mit Jim hinabsteigen in die schlimmsten und grausamsten Regionen seines Unterbewußtseins, müssen fallenden Kühen ausweichen, Kampfrinder halbieren, mit Disco-Zombies tanzen und den König des Rock höchstpersönlich vor einem Schicksal als Hamburger retten. Wow, das Spiel ist wirklich großartig, graphisch glänzend umgesetzt und zudem klar strukturiert. In vier Leveln (Gedanken/Glücklichkeit/Furcht/Fantasie) mit insgesamt acht Unterleveln und vier kniffeligen Endgegnern gibt es allerhand zu erleben, und jede neue Tür, die sich öffnet, jeder Schritt, der einen voranbringt, wird belohnt mit einer neuen phantasiereichen und originellen Welt, deren Betreten einem den Atem stocken läßt.

Aber es ist gar nicht so einfach, die vielen Aufgaben zu lösen und voranzukommen, und das ist das große und einzige Manko bei „Earthworm Jim 3D“ - und leider auch bei vielen anderen neuen Spielen. Bei „Banjo Kazooie", dem in meinen Augen umfangreichsten und besten „jump`n`run"-Spiel auf dem Nintendo 64, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, daß der unglaublich hohe Schwierigkeitsgrad die Spielfreude enorm hemmt, ja sogar stark herabsetzt. Bei „Banjo Kazooie" gab es etwa Passagen, die einen wirklich zur Verzweiflung treiben konnten, ich denke hier an den Drahtseilakt auf der Friedhofsmauer als verzauberte kleiner Ball. Bei „Earthworm Jim 3D" gibt es mindestens ebenso anspruchsvolle Partien, etwa wenn man sich in schwindelerregender Höhe mit einem Raketenantrieb von einem schmalen Stahlträger zum anderen hochschießen muß. Nach zwei erfolglosen Stunden möchte man den Controller am liebsten in den Kamin oder aus dem Fenster werfen, verdammt.

Eine andere Unsitte ist der übertriebene Sammelwahn, dem man permanent ausgesetzt ist und den man gleichfals schon bei „Banjo Kazooie“ beobachten konnte. In dem „Earthworm Jim 3D"-Spiel sind insgesamt 74 Euter und 1000 Murmeln versteckt, und um den Endgegner zu erreichen muß man tatsächlich alle 74 Euter und zudem 950 Murmeln finden. Wie wünscht man sich da doch die seligen Zeiten von „Mario 64" zurück, in denen man noch einen Endgegner besichtigen konnte, ohne alle Level ausgespielt zu haben? Die Programmierer und Spieldesigner sind jedenfalls auf dem Holzweg, wenn sie meinen, daß man mit der maßlosen Erhöhung des Schwierigkeitsgrades ein Spiel wirklich attraktiver macht. Vielmehr führt es dazu, daß man dieses bloß einmal und dann nie wieder spielt. Ich jedenfalls werde „Earthworm Jim 3D“ sicherlich kein zweites Mal anrühren, die letzten Herausforderungen waren dafür einfach zu gewaltig. Und das ist andererseits sehr, sehr schade! Natürlich können sich die besessenen Komplettisten ruhig an ein paar Stellen die Zähne ausbeißen, (um etwa die sagenumwobenen 103 Prozent des SNES-Donkey Kong 3-Spiels zu erreichen,) aber die Meßlatte naturgemäß so hoch zu legen, ist schlechthin Irrsinn. Es macht einfach keinen Spaß ein Level zum soundsovielten Male durchspielen zu müssen, nur weil einem 2 Melonen fehlen!

Trotzdem ist „Earthworm Jim 3D“ ein tolles und wunderschönes Spiel. Nun gut, es ist nicht so komplex wie das bereits erwähnte „Banjo Kazooie“ oder etwa „Donkey Kong 64", aber in punkto Phantasie und Einfallsreichtum kann es mit beiden locker mithalten - und es übertrifft sie stellenweise sogar. Um so erstaunlicher ist es, daß „Earthworm Jim 3D" in der Fachpresse so stiefmütterlich vernachlässigt und als „B-Spiel“ abklassifiziert wurde. Das ist besonders deshalb ärgerlich, weil es so keine deutschsprachige Komplettlösung gibt, auf die man aber zwangsläufig hin und wieder zurückgreifen sollte. Beispielsweise habe ich nicht bemerkt, daß in einem Unterlevel der Zugang zu einem weiteren Unterlevel versteckt ist ("Tod bereitet sich vor“ zu „Boogie Nights der lebenden Toten"). Nun ja, ich bin kein Freund von Komplettlösungen, aber bei „Earthworm Jim 3D“ ist sie meines Erachtens dringend notwendig. Auf einer amerikanischen Page habe ich nach langer Suche immerhin eine englischsprachige gefunden



P.S. Übrigens habe ich bislang bei jedem „jump`n`run"-Spiel, dass ich angefangen habe, auch die Endgegner besiegt: alle von Mario (NES+SNES+N64), Donkey Kong (selbst die schier unüberwindbaren der drei SNES-Spiele) etc. pp. - ja bis hin zu „Diddy Kong Racing". Allein einer fehlt mir! Bei „Banja Kazooie" hatte ich nach qualvollen Mühen endlich das Finale erreicht und bin dabei regelmäßig kläglich gescheitert. Bis ich schließlich den Tip mit den goldenen Federn las, das war dann ja nur noch ein Kinderspiel. Als ich mein Spiel aber daraufhin lud, drückte ich zweimal unkonzentriert auf den falschen Knopf und -schwupps- schon war mein Spielstand gelöscht. S …, und das nach all den Strapazen. Ich habe mich gehaßt, das Spiel gehaßt, die ganze Welt verabscheut. Solch ein Erlebnis nennt Sigmund Freud und mit ihm Earthworm Jim wohl traumatisch!