Schnappt sie Euch alle!
Vergessen Sie Sailor Moon, Furby und die Teletubbies: Pokémon erobern das Land
Was bewegt die Kinder und Jugendlichen von heute? Es sind Fragen wie diese: "Wenn ich ein Ditto im Spiel habe und mein Gegner entwickelt sein Sleima zu Sleimok, verliert dann Ditto seine Macht zuerst (und ist damit Ditto) oder transformiert er sich zuerst (und wird permanent zu Sleimok)?" Eltern, die vermeinen, sich und ihre Schutzbefohlenen vor solch neumodischen Unsinn bewahren zu müssen, sollten ihre Kinder entweder einmauern oder einfrieren.
Ditto und Sleima sind zwei von über einhundertfünfzig Pokémon, die die Kinderherzen in Japan und den USA im Sturm erobert haben und seit dem letzten Herbst auch in Deutschland jeden Umsatzrekord brechen. Wer in diesen Tagen in ein hiesiges Spielwarengeschäft, in eine Computerspielabteilung oder in einen Comicladen geht und sich nach den merkwürdigen Fabelwesen erkundigt, wird fast immer die gleiche Auskunft erhalten: Nein, alles ausverkauft, aber wir erwarten bald Nachschub. Und dafür, dass die Kauflust bis dahin nicht schwindet, ist bestens gesorgt, denn Pokémon tummeln sich einfach überall.
Entwickelt wurden die possierlichen Kampfmonster mit den aberwitzigen Namen 1997 vom japanischen Computerspielgiganten Nintendo. Geplant als "Tamagotchi de Luxe" sollten sie den Verkauf des Game Boy ankurbeln, der Anfang der Neunziger Jahre die Kinderzimmer ebenso prägte wie weiland Rubiks Zauberwürfel. Doch das entstandene "Pokémon - Gotta catch em all!"-Computerspiel bot weit mehr, es verband in gescheiter Weise das Tamagotchi-Prinzip, also die Fürsorge und Pflege eines virtuellen Bildschirmwesens durch einen leibhaftigen Spieler, mit den Fantasieaspekten von Rollenspielklassikern wie "Zelda". Denn Aufgabe des Spielers ist es, sich durch eine Computerlandschaft zu bewegen, soviele verschiedene Monsterbabys (Pokémon) wie möglich einzufangen und diese durch Beistand und Geschick zu bizarren Kampfwesen auszubilden, die den Endkampf gegen Mewtu - das oberböse Pokémon - bestehen.
Mit über zwölf Millionen allein in den USA und Japan verkauften Modulen ist "Pokémon" das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten. Als besonders gewinnträchtig erwies sich dabei die Möglichkeit, mit Hilfe eines Verbindungskabels Game Boys zu vernetzen und die herangezüchteten Pokémon im Mehrspielermodus gegeneinander antreten zu lassen, der individuelle Spielspaß wird so zum kollektiven Ereignis. Zudem läßt sich das eigentliche Ziel des Spiels, das Finden und Registrieren aller einhundertfünfzig Pokémon, nur durch den Datentransfer realisieren, da das Spiel in verschiedenen Editionen (rot und blau) angeboten wird, auf denen sich jeweils nur eine begrenzte Anzahl Pokémon verstecken. Das führt mitunter dazu, dass geschäftstüchtige Kinder die gefangenen und ausgebildeten Pokémon an Mitschüler weiterverkaufen. Und um in den Besitz des sagenumwobenen 151. Pokémon Mew zu kommen, muß man sogar an den von Nintendo organisierten Pokémon-Trainer-Events teilnehmen, als deren Siegprämie das Herunterladen von Mew lockt.
Die wirklich beispiellose Pokémon-Vermarktungsmaschinerie ist derart beschaffen, dass sie nahezu jedes Kinderbedürfnis vollständig abdeckt. Kurz nach der Veröffentlichung des Videospiels wurde für das japanische Fernsehen eine Zeichentrickfilmserie produziert, die, obwohl sie sich von der auch hierzulande bekannten Anime-Dutzendware wie "Heidi" oder "Captain Future" kaum unterscheidet, innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsmagneten avancierte und bereits 1997 weltweit für Negativschlagzeilen sorgte, als nach der Ausstrahlung einer Folge annähernd 700 japanische Kinder aufgrund der grellen Lichteffekte einer Bildersequenz epiletische Reaktionen zeigten. Seit September letzten Jahres läuft die Zeichentrickfilmserie nun auch auf deutschen Bildschirmen - allerdings ohne die anstößigen Sequenzen - und eröffnete den hiesigen Pokémon-Boom. Und schon Anfang Dezember konnte eine TV-Folge zum ersten Mal die 1-Millionen-Zuschauergrenze durchbrechen.
Auch in Amerika setzt Pokémon fortwährend Rekordmarken. Der im Herbst angelaufene Kinozeichentrickfilm "Pokémon - The First Movie", der im Frühjahr auf den deutschen Leinwänden zu sehen sein soll, spielte allein in der ersten Woche über 50 Millionen Dollar ein - und in Japan steht der dritte Kinofilm kurz vor der Vollendung. Pokémon-Soundtracks belegen in Japan und Amerika Spitzenplätze in den Verkaufscharts, überdies ist das Pokémon-Comicmagazin, das in den USA nur über Spielwarenläden zu beziehen ist, regelmäßig mit gewaltigem Abstand das meistverkaufte Comicheft des Landes. Übrigens wird auch in Deutschland ein Pokémon-Comicheft von Nintendo exklusiv, allerdings kostenlos, über Spielwarengeschäfte vertrieben.
Pokémon lassen sich insbesondere deshalb so ideal vermarkten, weil die Industrie gleichzeitig den Komplettsammler wie auch den Liebhaber einzelner Charaktere freigiebig bedient. Die Kinderkonsumenten können sich entscheiden, ob sie entweder die Erzeugnisse ihres Liebligspokémon, etwa die Pummeluff-Reißverschlußhilfe, erwerben oder sich für eine bestimmte Produktlinie entscheiden, beispielsweise das Pokémon-Sammelkartenspiel, dass in Deutschland allein in den ersten vierzehn Tagen einhunderttausendmal verkauft wurde und von dem weltweit bislang insgesamt über 400 Millionen Sammelkarten umgesetzt wurden. Zudem faszinieren Pokémon Jungen wie auch Mädchen; wer etwa partout keine Lust hat, sein Pokémon zu einer Kampfmaschine auszubilden, kauft sich einfach das "Pokémon Pikachu Ped-o-Meter", einen modernen Tamagotchi-Minicomputer. Das Spielgerät verfügt nicht nur über eine Digitaluhr mit Weckanzeige, gleichzeitig reagiert es auf Bewegungen und setzt diese in elektrische Watt um, die man dann Pikachu, das beliebteste Pokémon, schenken kann, damit er sich freut und prächtig gedeiht. Sogar an Stubenhocker, die nur ungern einen Schritt vor die Tür setzen, wurde gedacht: "Pokémon Pikachu" verfügt über eine integrierte Slot-Maschine, an der man die lebenswichtigen Watt für seinen virtuellen Pikachu notfalls auch gewinnen kann.
Und so wird all das fleißig verkauft, was sich verkaufen läßt: Plüschtiere, Rucksäcke, Fotorahmen, Malbücher, Kekse, Tatoos - die Liste ist endlos. In den USA konnte beispielsweise Burger King seinen Umsatz deutlich steigern, seit es Kids- und Big Kids-Menüs mit Pokémon-Spielsachen und Trading Cards anbot. Zudem verkaufte Burger King separat auch sechs mit 23karätigem Gold überzogene Sammelkarten, die eigens mit einem der vier Pokémon-Jumbo Jets 747 der japanischen Fluggesellschaft All Nippon Airways eingeflogen wurden. Ob Burger King Deutschland demnächst eine ähnliche Pokémon-Kampagne starten wird, hängt jedoch von dem Ausgang eines Gerichtsverfahrens in den USA ab, denn nachdem ein 13 Monate altes Mädchen an einem halben Pokéball, in dem die Spielzeuge verpackt sind, beinahe erstickt wäre, und ihre Eltern nun Burger King auf Schadensersatz verklagen, hat der Fast-Food-Konzern seine Werbeaktion vorläufig eingestellt.
Wie dem auch sei, die Pokémon-Epidemie hat in Deutschland noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht. Dieser Tage erschien in Japan ein neues Spielmodul für den Game Boy und verkaufte sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden 1,8 millionenmal. Und so müssen sich Eltern auch in Zukunft noch mit Fragen wie der eingangs gestellten herumschlagen. Übrigens ist die Antwort ganz einfach: Sleimoks Fertigkeit schaltet alle anderen Pokémon-Kräfte aus, auch die "Transformations-Power" von Ditto - Sleimok gewinnt.