Martin Wuttke kommt in die „Neustadt“ gewatschelt, klein, chaplinesk, sich biegend, gummiartig krümmend, mit Schlabber-Schlagjeans, gelbem Humana T-Shirt , lausigem Parka, schütterem Haar. Ein Irrer, ein Penner, ein Junkie? Nein, der Idiot. Fürst Myschkin, wie ihn Dostojewski erschuf. Naiv, gutgläubig, ohne jeden Funken Ironie oder Hasses. Das Bühnenbild des sechsstündigen Theatermarathons: eine Offenbarung! Die gut 200 Zuschauer sitzen auf einem Baugerüstturm, der sich über zwei Flügel erstreckt, in einem Winkel von 90° aufeinander zulaufend, in drei Ebenen. Auf jeder sicht- und geräuschdurchlässigen Leichtmetallebene sind mehrere Monitore angebracht. Der Zuschauerturm steht im eigentlichen Bühnenraum und dreht sich während des Stückes um die eigene Achse. Im Rund sind Kulissen mehrstöckiger Wohnhäuser aufgebaut, ein altes Bürgerhaus, ein vierstöckiger Neubau und ein dreistöckiges Wohnhaus unbestimmten Charakters.
Das Porträt einer nur mit Slip bekleideten Bierflaschenträgerin spielt in den ersten Szenen die entscheidende Rolle. „Ein erstaunliches Gesicht!“, sagt der Idiot, befragt, ob ihm eine solche Frau gefalle. Damit ist die Rolle des Idioten bereits umrissen. Er sieht nicht das Augenscheinliche, er sieht stets das Dahinter - und spricht es aus. Dafür wird er geliebt, gefürchtet und gehasst. Jeder spiegelt sich in seienr Wahrnehmung und (beinahe) jeder versucht, den Idioten für sich zu instrumentalisieren.
Der Zuschauer wird allmählich mit den Möglichkeiten der Inszenierung vertraut gemacht; erst nach und nach verlagert sich das spielerische Geschehen in die Innenräume, gewöhnt er sich daran, nur über Monitore und Übertragungsleinwände zu sehen, was passiert. Per Handkamera sehen wir, wie eine aufreizende Sophie Rois mit fülliger Grauhaarperücke Lisaweta Prokofjewna, die Mutter dreier Töchter mimt. Ein weißer Engel mit Schmirgelpapierstimme. Sie nimmt den zittrigen, um Worte ringenden Fürsten ins Verhör, spielt mit ihm, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Nach seinen ersten Eindrücken in der Schweiz, wo er die letzten Jahre verbrachte, ausgehorcht, bröckelt Wuttke heraus: „ …der Esel ist eine guter Mensch …“
Zwei Szenen später betreten die „Neustädter“ den eigentlichen Zuschauerraum. Hier führt eine riesige, breite Holztreppe zur bierzeltartigen Kneipe mit Klappbänken, zu Imbiss, Verkaufsladen und Friseurcontainer. Über allem flimmern eine Großstadt-Silhouette, eine Bingo Aufschrift und die große Leinwand. Am Rad leuchtet eine Kinoreklame, dümpelt ein vergitterter Zeitungskiosk. Schachtelartige Container im Hintergrund mit heruntergelassenen Jalousien vermitteln den Eindruck einer Einkaufszeile nach Feierabend. Hier findet u.a. die Verführungsszene statt. Cordelia Wege, als Aglaja Iwanowa Tochter der Lisaweta P., will den Fürsten für sich haben. Aglaja wirbt, raubkatzenhaft, geschmeidig und mit bis zur letzten Muskelfaser gespanntem Willen. Cordelia Wege erzeugt mit beinahe stoischer Mimik eine Körpermusik, einen archaischen Gliedmaßenwirbel. Außerordentlich die Szene, in der sie indischen Musikclips, die minutenlang auf der Leinwand übertragen werden, singt und tanzt, wackelt und sich bäumt! In ihrer kindlichen Egozentrik ist diese Figur beinahe die brutalste, unmittelbarste, gegen die der Idiot in seiner gewaltlosen Haltung machtlos bleibt. Einzig die Verweigerung hält Abstand.
Der Idiot liebt die schöne Nastassja. Die liebst ihn ja auch ein bisschen, weil er reich ist, ehrlich und so naiv, sie anhimmelt und ihren Schutz braucht. Aber dann läuft sie doch wieder Myschkins Freund Rogoschin in die Arme ein Teufelskreis.
Die Aufführung des Idioten ist ein brillantes, alle Register der Verstörung ziehendes Spektakel. Einzelne Bilder, durch die Handkameras in bedrückender Nähe zu beschauen, nehmen einem schier den Atem. Wenn z.B. der schwindsüchtige Ippolit, sensibel und altklug von Alexander Scheer gegeben, im Friseurcontainer seine Predigt hält. Da ist auf den Leinwänden Scheers Gesicht in Armeslänge zu sehen. Die Worte schießen direkt, während der Schauspieler in den Spiegel blickt, auf die hinter ihm stehende, wunderbar verstörte Sophie Rois. Gespannte Nasenflügel, leicht geöffneter, blakender Rotmund, volles Grauhaar - und Schweigen. Danke, Frank Castorf!