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„Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, widersprach die Süddeutsche Zeitung Hermann Hesse und meinte damit das erste Eröffnungswochenende am Kölner Schauspielhaus. Eine Woche später, termingerecht am 9. November, dem deutschen Tag schlechthin, trat Enrico Lübbe an, um mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards „Vor dem Ruhestand“ die groß angekündigte Theateroffensive des neuen Intendanten Marc Günther zu flankieren. Die drei gealterten Geschwister Höller, die auf Gedeih und Verderb zusammen leben, feiern jedes Jahr am 7. Oktober den Geburtstag des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler. Schließlich war der Gerichtspräsident Rudolf Höller, der mittlerweile das Rentenalter erreicht hat, einst stellvertretender KZ-Kommandant und hat einmal mit Himmler zusammen zu Mittag gespeist. Schwester Vera bügelt mit gleicher Inbrunst neben Rudolfs richterlichem Talar und dessen SS-Uniform auch die gestreifte KZ-Jacke, die Schwester Clara manchmal zur Freude des Bruders überziehen muss. Rudolf und Vera bestätigen sich ständig gegenseitig, dass jedes deutsche Herz in aller Latenz immer noch nationalsozialistisch schlägt, und beschwören die Wiederkunft der Nazigesellschaft. Gibt es in diesen ewiggestrigen Konsens hinein didaktisch wertvollen Widerspruch? Es ist üblich, die arme, verkrüppelte Clara das Opfer, die Linke, das moralische Gewissen spielen zu lassen. Aber will man wirklich noch eine Stimme mehr hören, die den Besucher des bürgerlichen Theaters zum „Aufstand der Anständigen“ bekehren will? Die Kölner Inszenierung versucht einen anderen Weg. Die revolutionären Zeitungen, die Vera zum Leidwesen ihrer Geschwister liest, versteht sie gar nicht, sie kann sich in der „Iswestija“ nur die Bilder anschauen. Sie benutzt die kyrillisch beschriebenen Blätter, um dahinter heimlich alte Ausgaben des „Stürmer“ zu lesen, Julius Streichers antisemitisch-pornografischem Ekelblatt. Clara heischt mit ihrer Rebellion nur um Aufmerksamkeit, vielleicht deshalb, weil sie in der inzestuösen Beziehung ihrer Geschwister außen vor steht. „Ab und zu hat der Denkende die Pflicht, ins Weltgeschehen einzugreifen“, doziert Rudolf Höller und meint damit den durch ihn verhinderten Bau einer Chemiefabrik und seine Tätigkeit im Konzentrationslager. Enrico Lübbe greift als denkender Regisseur in die Bernhard-Rezeption ein, und nach den Aufräumarbeiten um die Clara-Figur wird Bernhards Stück wieder die „Komödie von deutscher Seele“, die der Untertitel verspricht.
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