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Juli 2003
Enno Stahl
für satt.org



Fernsehen in Alpe d’Huez

Tour de France 2003 [1] [2]



bikesSo schön hatten wir alles vorbereitet für unsere Exkursion nach Alpe d’Huez: neben Camping-Ausrüstung und Verpflegung steht ein Fernseher nebst Sat-Schüssel parat, das Rennen können wir so erst medial mitverfolgen, bis dann authentisch und ganz real die Fahrer wenige fingerbreit von uns entfernt vorbeisausen, die wir gemütlich mit kaltem Bier auf 1600 Meter Höhe drei Kilometer vorm Ziel uns installiert haben. So hatten wir es uns ausgemalt, gekommen ist es anders: kein Empfang.

Nervenkrise, verzweifelte Versuche, die Antenne zu justieren, hundertfaches Neu-Programmieren des Kanals: alles vergeblich. Nur ein verschneites Schwarz-Weiß-Bild ohne Ton ist uns beschert, buchstäblich weißes Rauschen. Wir sitzen in dieser grandiosen Landschaft, schneebedeckte Gneisformationen direkt voraus, Tausende ausgelassener, kostümierter Menschen flankieren die gefürchteten Mäander, die in 21 Schlingen hoch nach Alpe d’Huez sich winden. Ein fesselndes Panorama, gewiss, doch seit zehn Uhr ist die Tour unterwegs, und wir sind nicht dabei! Wir stellen uns vor, welch spannende Manöver in diesem Augenblick passieren. Naht der erste Berg? Gibt es gar schon einen Ausreißer? Wir werden es nicht erfahren. Fahrrad Classic

Eine sächsische Fahrradgruppe platziert sich neben unserem temporären Haushalt. Mit einer wegwerfenden Handbewegung quittieren auch sie unser verschwommenes, verrauschtes Fernsehbild: „Nö, das is doch nüscht! Da unne der, der hat Empfang!“ Wir spähen hinab, in der Tat, 150 Meter tiefer im Hang hat sich eine vielköpfige Schar um einen Caravan versammelt. Zweifellos, dort muss ein Fernseher stehen. Unverzüglich machen wir uns auf den Abstieg, die Hoffnung trügt nicht: die Tour live und in Farbe mit deutschem Kommentar. Was macht dieser Mann anders als wir bzw. was machen wir falsch?

Wir bleiben ratlos, bis es uns jemand erklärt: Fernsehempfang, den gibt es hier nur bis zu einer bestimmten Höhe. Darüber ist Sense, und wo Sense ist, da sind wir. Schade eigentlich. Eine Weile verharren wir unter diesen schweigenden Männern, schwitzende Radsportler zumeist mit runtergelassenen Hosenträgern. Doch fünf Stunden – so lang wird diese Etappe sicher währen – können wir nicht bleiben in der prallen Mittagssonne. Mit einem wenig befriedigendem Zwischenstand kehren wir zu unserem Schattenplätzchen zurück, ab und an treffen per Mundpropaganda neueste Nachrichten ein, der Berg ist eine Art Informationsschleife, die den mangelnden Kenntnisstand der TV-losen Majorität etwas ausgleicht.



Alpe d'Huez
Alpe d’Huez

Ein bisschen komisch ist es schon, wir drehen Däumchen, woanders wird Geschichte geschrieben. Klar ist die Begeisterung groß, als der spätere Etappensieger Mayo in Sicht gerät und einem großartigen persönlichen Triumph entgegenächzt, als Vinokourov, Armstrong, Ullrich mit verkniffenen Gesichtern an uns vorbeistrampeln. Aber wie es dazu kam? Wir wissen es nicht und erkennen eines sehr genau: Wir leben in virtuellen Welten, die unsere Wahrnehmung maßgeblich bestimmen, da mag man rechten, wettern, werten, aber wenn er fehlt, dieser Teil empirischer Anschauung, sind wir wie amputiert. Real und medial: beides geht nicht ohne einander; beides wird zu dem, was es ist, durch die Existenz des anderen. Die Konsequenz muss also lauten: das nächste Mal nur noch mit Kabel!