Schon im Vorfeld war das Getöse groß: Der "Skandal-Regisseur" Calixto
Bieito, hieß es in der Presse, werde Mozarts "Entführung aus dem Serail"
in seiner Inszenierung an der Komischen Oper unzweifelhaft genauso
zerstückeln (oder wahlweise: verschandeln) wie zuvor den "Troubadour" in
Hannover oder den "Macbeth" in Salzburg. Dem 40jährigen Katalanen eilt
ein gewaltiger Ruf voraus. Und tatsächlich drängt sich am Premierenabend
das Publikum im Foyer der Oper, die Luft durchweht ein Hauch von
Abenteuer, und auch der Presse-Andrang ist gewaltig: am Anfang der
langen internationalen Schlange am Pressetisch fordern wütende
Journalisten, deren Namen nicht auf den Listen stehen, die Herausgabe
ihrer bestellten Karten.
Calixto Bieito |
Im Zuschauerraum bleibt jedoch zunächst alles ruhig, gar Gelächter ist
zu hören, obwohl Bieitos Inszenierung das Publikum von Anfang an nicht
schont. Osmin bewegt sich in den ersten zehn Minuten splitternackt über
die Bühne - doch hier hält sich das Provokationspotenzial, im Vergleich
zu den Dingen die noch kommen sollen, sehr in Grenzen: Der harmlose Spaß
wird vom Publikum eher belustigt und sehr wohlwollend aufgenommen.
Bieito lokalisiert seine "Entführung" in einem modernen Bordell (Bühne:
Alfons Flores, Kostüme: Anna Eiermann). Eine durchaus stimmige
Aktualisierung, handelt es sich doch bei dem Titel gebenden "Serail" um
einen Harem, und hat doch Bassa Selim Konstanze entführt, um sie zur
Liebe zu zwingen, notfalls mit Gewalt. Ob in der ausgedachten
Wiener'schen Osmanen-Zeit oder in einem der heutigen, euphemistisch
"Freudenhaus" genannten Etablissements: Ein Bordell ist immer ein
potenzieller Schauplatz von männlicher Machtausübung und Gewalt gegen
Frauen. Jeden Tag gehen in Deutschland 800.000 Männer zu Prostituierten,
so informiert das Programmheft; das uralte Gewerbe ist heute ein
Bestandteil der modernen Dienstleistungsgesellschaft - und doch leben
viele Prostituierte in schlimmen Umständen am Rande der Illegalität oder
völlig außerhalb von Gesetz und Recht. Die bekannten Tatsachen kümmern
die Freier, die durchaus auch aus den sogenannten "besseren Kreisen"
kommen, wo man neben Bordellen auch gern Opernpremieren besucht, in
aller Regel nicht. So etwas zu zeigen, gesellschaftliche Missstände zu
benennen, auch mit drastischen Bildern, ist eine Aufgabe der Kunst.
BIeito bietet uns mit seiner Umsetzung des sonst gern romantisch
verklärten Mozart'schen Serails als Bordell ein schlüssiges Konzept,
welches eine Inszenierung ermöglicht, die ein für uns heute relevantes
Thema aufgreift und die Oper erfolgreich aus ihrem Museumsdasein reißt.
Über Bieitos Umsetzung der Idee lässt sich durchaus im Einzelnen
streiten. Es sind wirklich sehr harte Bilder, die dem Publikum unentwegt
vor den Latz geknallt werden: nackte Menschen auf der Bühne regen zwar
offenbar nicht einmal mehr ein Opernpremierenpublikum auf, zumal in
Berlin; auch Kopulationen in den verschiedensten Stellungen rufen noch
keine Buhhhs hervor, und Schießereien mit spritzendem Blut auf der Bühne
werden weit gehend toleriert. Doch Bieito geht noch darüber hinaus und
zeigt unter anderem die Folterung einer der Frauen im Serail lang und
breit und in aller Drastik bis zum Abschneiden der Brustwarzen. An
dieser Stelle regt sich der erste Widerstand im Parkett und auf den
Rängen, wenige Zuschauer verlassen den Saal, viele machen ihrem Unmut
durch lautstarke Äußerungen Luft.
Man kann über die Grenzen der Kunst oder des guten Geschmacks
unterschiedlicher Ansicht sein, wobei die Frage erlaubt sei, was Kunst
mit dem sogenannten guten Geschmack zu tun haben soll und wer diesen
definiert oder definieren sollte - doch wohl nicht das Abo-Publikum,
sonst gnade uns Gott! Nein, der Maßstab für das, was auf der Bühne
erlaubt ist, ist die Frage, ob das betreffende Element für den Inhalt
und das Konzept der Inszenierung Sinn macht. Den Serail als modernen
Puff darzustellen ist eine mutige und lobenswert gesellschaftskritische
Konzeption, gerade für eine Oper. Diese Dinge passieren jeden Tag, es
muss erlaubt sein sie zu thematisieren oder sie künstlerisch zu
verarbeiten, ohne zu romantisieren. Bis auf drei oder vier kleine
Ausnahmen sind die gewalttätigen, brutalen Szenen in Bieitos
Inszenierung inhaltlich begründet, Provokation nur um der Provokation
willen kommt erfreulich selten vor. Insgesamt aber wäre besser gewesen,
die ganze Inszenierung weniger naturalistisch und stattdessen
metaphorischer anzulegen, ohne, dass sie an Drastik hätte einbüßen
müssen. Der erste künstlerische Schritt ist die Transformation von
Mozarts Serail ins Heute - ein wunderbarer Ansatz - der zweite wäre
gewesen, von der naturalistischen Abbildung zu abstrahieren und eigene
metaphorisch-assoziative Bilder für die gemeinten Vorgänge zu finden.
Bei der sich ständig wiederholenden Darstellung von Sex- und
Gewalt-Orgien wird selbst die drastischste Szene langweilig und
ermüdend, und büßt jede Wirkung ein, die über die reine Provokation
hinausgeht.
Auch musikalisch ist der Abend ein zweischneidiges Schwert. Kirill
Petrenko und sein Orchester beginnen fahrig und ungenau, steigern sich
aber sehr im Laufe des Abends. Immerhin präsentieren sich der Dirigent
und seine Musiker erfrischend schwung- und kraftvoll. Der Chor überzeugt
im Ganzen ebenfalls. Die Solisten sind zum großen Teil hervorragend:
Maria Bengtsson begeistert als wohlklingende Konstanze, auch Osmin
(herrlich: Jens Larsen) und Pedrillo (Christoph Späth) sind gut besetzt.
Natalie Karl als Blonde ist kraftvoll, aber ein wenig zu schrill, und
Finnur Bjarnason als Belmonte zeigt sich etwas überfordert. Der
Schauspieler Guntbert Warns ergänzt das Ensemble in der Sprechrolle des
Bassa Selim. Die Musik wird leider wenig eingebunden in die
Gesamtinszenierung, hier hätte genauer gearbeitet, hätte etwa die
Kontrastbildung zwischen fröhlicher Musik und brutaler Handlung besser
inszenatorisch genutzt werden können. In wenigen kurzen Augenblicken
zeigt Bieito Selbstironie, indem er eine blutige Szene so sehr
übertreiben lässt, dass sie nicht mehr ernstgenommen werden kann. Mehr
von diesen erfrischenden Brüchen würden für's erste schon gut tun.
Brauchen wir modernes Musiktheater? - unbedingt, bitte auch mit
gesellschaftskritischen Tönen, aber auch mit mehr Fantasie - sonst
können wir zu Hause bleiben und Nachrichten, Reportagen oder auch Pornos
schauen.