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Juni 2004
Frank Willmann
für satt.org




Alles im Eimer?
Der 1. FC Union am Scheideweg



Der 1. FC Union Berlin steht vor einem Scherbenhaufen. Die gerade beendete Zweitligasaison schloss der Verein als Vorletzter ab. Union hat enorme Schulden, die Lizenz für die Regionalliga ist lange nicht gesichert. Der DFB fordert vom 1. FC Union Berlin eine Liquiditätsreserve in Höhe von 1,461 Millionen Euro. Bis zum 09. Juni muss diese Summe beschafft werden.
Aus diesem Anlass sprach Frank Willmann mit Andre Rolle. Andre Rolle war bis vor kurzem Stadionsprecher des 1. FC Union Berlin. Er ist dem Club seit Menschengedenken verbunden.



Frank Willmann:
Wo siehst du die Ursachen für den Absturz des 1. FC Union?

Andre Rolle:
Sportlich war dieses Team völlig überfordert, mit großen Defiziten im mentalen und physischen Bereich gepaart mit technischen Problemen. Und das Team hatte kein Herz. Nur drei, vier Spieler hatten den Union-Virus in sich. Spiele wie in Regensburg, Ahlen oder Burghausen taten einfach doppelt weh, weil sie nicht einmal kämpften. Wir sind in meinen siebenunddreißig Union-Jahren öfter abgestiegen, aber so charakterlos noch nie! Wirtschaftlich sind die Ursachen viel differenzierter und breiter.

Frank Willmann:
Wie hat es der Club geschafft, seine Schulden weiter zu erhöhen?

Andre Rolle:
Da war sehr viel Selbstgefälligkeit und Größenwahn im Spiel. Mit dem Aufstieg, dem Pokalfinale, dem UEFA-Cup und dem sehr guten ersten Zweitligajahr wähnten sich einige Herrschaften schon im siebten Himmel. Devisen wie neues Stadion für 30 Mille, 10.000 Mitglieder wurden ausgegeben. Das Duell mit Hertha wurde thematisiert. Größenwahn pur, anstatt sich im Profi-Fußball zu gesunden, zu stabilisieren. Der Sponsorenpool ist in den drei Jahren nicht spürbar gewachsen und man bat "Unionretter" Dr. Kölmel stillschweigend wieder zur Kasse. Ich hätte Skrupel, ihn wieder anzupumpen. Wie nennt man die, die diese Skrupel nicht haben?

Frank Willmann:
Wer ist dafür verantwortlich?

Andre Rolle:
Ganz klar, die von unserem Ende 2003 abgelösten Präsidenten Heiner Bertram installierten – wie er es nennt – "professionellen Strukturen". Ich habe bereits vor zwei Jahren im Internet-Forum auf diese Fehlentwicklungen hingewiesen und bekam von der "Blauaugen-Fraktion" Feuer, weil sie doch an die Mär vom erfolgreichen Sanierer glaubten. Spätestens seit dem Finanzbericht auf der Mitgliederversammlung wissen nun auch sie, wie man mit Geld umgegangen ist. Und ich erwarte vom neuen AR und dem Präsidium, dass er aufräumt und Effizienz im Mittelpunkt steht und nicht Eitelkeiten.

Frank Willmann:
Warum wollten Union nur 7.695 Zuschauer im Durchschnitt pro Spiel sehen?

Andre Rolle:
Das ist hausgemacht. Zum einen ist unser Stadion so schön antiquiert, dass selbst englische Fans hier gerne hinkommen, um den Titel sechsundsechzig nachzufeiern, das Ambiente eben. Zum anderen werden Neue so dermaßen heiß konfrontiert, dass sie beim nächsten Spiel mittanzen oder fernbleiben. Ich habe schon Leute gehört, die uns "alles Verrückte" oder "völlig krank" betitelten. Es ist eben nichts schöner, als Windböen, Dauerregen und Blitze … Naja, und unsere Werbeprofis haben auch ihre Aktie an den nur vierstelligen Zahlen.

Frank Willmann:
Was ist für dich das Besondere am 1. FC Union?

Andre Rolle:
Es ist Heimat, Familie, Freunde. Früher waren wir sicher ein Geheimtipp für Außenseiter. Doch in diesem Kommerz-Zeitalter gibst Du Stück für Stück diese Identität ab. Je näher man an den Klub rankommt, desto weniger ist an/in ihm wirklich Kult. Das Umfeld mag kultig sein, unser Oberfan Schlenne, unser Stadionheft. Aber der Klub wird nach und nach "verschalket". Dem sollte man mit der neu gegründeten Fan- und Mitgliederabteilung entgegen wirken. Mit Kompromissen auf beiden Seiten.

Frank Willmann:
Warum gelingt es den Verantwortlichen des 1. FC Union nicht, Kapital aus dem Image des "Andersseins" zu schlagen?

Andre Rolle:
Weil sie selbst nicht unsere Normen kennen, geschweige denn leben. Es ist nicht die Welt des Arbeitsuchenden aus Oberschöneweide oder des Studenten der FHTW. Aber wir bluten. Wir sind nunmehr das "kleine Dortmund". Der Kumpel auf dem Rang, der Glatte auf dem Rasen. Was immer bleibt: Der Kumpel auf dem Rang! Die Glatten reizen ihr Feld aus und verschwinden!

Frank Willmann:
Der Verein hat nun seine Fans aufgefordert, für ihn zu bluten, Geld zu sammeln?

Andre Rolle:
Die Summe ist schon dreistellig. Und ich hoffe, dass viele uns helfen, vielleicht ein letztes Mal. Denn wir Mitglieder müssen die entfernen, die uns das eingebrockt haben. Wenn wir das nicht tun, brauchen wir an keinem Rathaus, bei keinem Unternehmen mehr anzuklopfen!

Frank Willmann:
Vor wenigen Tagen fand die Mitgliederversammlung statt. Ein neuer Aufsichtsrat wurde gewählt, der nun alles besser macht?

Andre Rolle:
Ich bin recht zuversichtlich. Das Konzept des Hurtado-Teams ist klar und strukturiert. Das Mandat haben sie durch die MV erhalten. Im Herbst wissen wir mehr. Ich werde das als "Eigentümer", O-Ton Dr. Hurtado über uns Mitglieder, weiterhin kritisch begleiten. Also die ersten Spielminuten waren okay, aber ein Spiel geht bekanntlich …

Frank Willmann:
Der neue Aufsichtsratvorsitzende sieht Union 2010 in der Bundesliga. Wo siehst du die Zukunft des Clubs?

Andre Rolle:
Agenda 2010? Visionen kann und soll er als Sponsor haben. Aber die Wünsche vieler Fans sind gewiß nicht auf Bayern oder den HSV fixiert. Offensivfußball, unser Stadion, geiler Support, krasses Stadionheft und seine Currywurst – das will der Fan, einfach Spaß.