Am Ende scheint der alte Heiner Müller selbst auf der Bühne zu stehen:
Der Schauspieler Christian Grashof spricht "Ajax zum Beispiel", ein
spätes Gedicht. Im Deutschen Theater geht die zweite Vorstellung von
"Germania. Stücke" zu Ende, ein Theaterabend, für den Regisseur Dimiter
Gotscheff Teile aus Heiner Müllers Werken zusammengetragen hat, die sich
mit dessen großer Obsession, der deutschen Geschichte,
auseinandersetzen. Nachdem neun Schauspieler zwei Stunden lang in
ständig wechselnden Rollen die Texte Müller’scher Figuren interpretiert
haben, ist der Autor selbst an der Reihe, in Gestalt Christian Grashofs,
der "Ajax zum Beispiel" ganz pur ins Publikum spricht. Es ist ein
Resumee, nicht nur ein Rückblick auf den Abend, sondern auch ein
Abgesang des Autors auf Leben und Werk.
Mit seinem Zugriff auf Heiner Müller ist Dimiter Gotscheff in die
Fußstapfen des niederländischen Regisseurs Johan Simons getreten und
dessen Weg auf ganz eigene Weise weiter gegangen. Simons war in der
vergangenen Spielzeit mit seiner minimalistischen Inszenierung von
Müllers "Anatomie Titus" in München zum Theatertreffen eingeladen
worden. In den Kammerspielen saßen die Schauspieler dem Publikum auf
identischer Theaterbestuhlung gegenüber, als würden sie selbst auf eine
Bühne blicken. Fast wie nebenbei, leicht und mit sparsamen Gesten, wurde
da die Tragödie um den römischen Feldherren abgehandelt.
Auch hier im DT Heiner Müller pur - für das Theater vielleicht der beste
Weg, ihm beizukommen. Auf einer nach hinten ansteigenden Schräge stehen
neun Stühle (Ausstattung: Jens Kilian), sonst ist die Bühne leer.
Gotscheff und sein Ensemble konzentrieren sich ganz auf die Texte.
Manchmal wirkt das wie ein Rezitationsabend, etwa wenn Robert
Gallinowski "Landschaft mit Argonauten" spricht. Dann möchte man sich
zurücklehnen, die Augen schließen und die Assoziationen schweifen
lassen. Und das ist die Stärke der Müller’schen Texte: Die Bilder, die
sie bei jedem Einzelnen erzeugen. Eine schauspielerische Illustration
ist da gar nicht nötig, vielmehr birgt sie immer die Gefahr, den Text
und seine vielfach übereinander geschichteten Bedeutungsebenen
zuzudecken.
Doch "Germania. Stücke" ist mehr als ein Rezitationsabend, und das ist
auch wieder gut so. Zwei Stunden lang nur den dichten, an allen Ecken
und Enden mit Mythen und Assoziationen gespickten Text aufzunehmen,
würde am Ende doch ermüden. So hat Gotscheff bei aller Schlichtheit und
Reduktion gut daran getan, zwischen den rezitatorischen Ruhepunkten auch
aktionsreichere, ja komödiantische Passagen zuzulassen. Ein Höhepunkt
ist hier "Die heilige Familie", ein Text, in dem es um die Vorbereitung
der Geburt eines Kindes von Adolf Hitler und Joseph Goebbels geht - eine
tragikomische Veranstaltung, die das Ensemble genussvoll auskostet. Auch
die "Hommage à Stalin", bei der die großartige Almut Zilcher den Text
mit einem Gestus übertriebener Heiterkeit vorbringt oder die den Abend
eröffnende Szene aus "Leben Gundlings …" gewinnen Müllers stets so
gravitätisch wirkenden Texten eine selten gesehene humoristische Seite
ab - und das ohne die Figuren oder den Autor selbst unangemessen zu
veralbern.
So gelingt der Regie auch meisterhaft über den ganzen Abend, der bei
Müller serienmäßig eingebauten Pathosfalle zu entgehen. Mit einem gut
aufgelegten Ensemble (neben den bereits genannten Nele Rosetz, Thomas
Schmidt, Stefan Kaminski, Magne Havard Brekke, Katharina Schmalenberg,
Jürgen Huth und Margit Bendokat) und den beiden Musikern Dietmar Diesner
(Saxofon) und Sebastian Hilken (E-Cello) ist Dimiter Gotscheff ein
anspruchsvoller, manchmal anstrengender, aber sehr kluger und in seiner
Schlichheit wirkungsvoller Theaterabend geglückt, der außerdem zeigt,
dass es bei Heiner Müller noch einiges zu entdecken gibt.