Die Wooster Group aus New York gastiert mit ihrer Produktion "Poor
Theater" im HAU 2 in Berlin. Wie der Titel andeutet, beschäftigt sich
die Kult-Truppe in ihrem neuen Stück mit dem polnischen Regisseur und
Theatertheoretiker Jerzy Grotowski, der in seiner Arbeit und in seinen
programmatischen Schriften ein "Armes Theater" forderte. Das scheint ein
Widerspruch zu sein, ist doch die Bühne - wie von der Wooster Group
gewohnt - mit viel Technik bestückt, und hatte doch Grotowski für sein
"Armes Theater" den Verzicht auf Licht, Schminke, Bühnebild und Kostüme
gefordert.
Schnell wird klar, dass es der Wooster Group nicht um einen Neuanfang
oder eine Rückbesinnung geht, nicht um die Anwendung von Grotowskis
Programm, um damit eine "Neue Einfachheit" oder dergleichen zu
erreichen. Um was aber geht es dann? Neben Grotowski wird eine weitere
Theaterlegende thematisiert, der Choreograf William Forsythe, der
zwanzig Jahre mit seinen Tänzern in Frankfurt/Main wirkte, bevor die
hoch renommierte Compagnie in einem skandalösen Vorgang aufgelöst wurde.
Doch zu Forsythe kommt man erst im zweiten Teil des Abends, zunächst
geht es um Grotowskis Inszenierung der "Akropolis" von Wyspianski. Wir
sehen einen Film, der Mitglieder der Wooster Group zeigt, die wiederum
ein Video über Grotowskis Arbeit anschauen und die dort ausgeführten
Übungen nachahmen. Später kommen die Schauspieler "live" auf die Bühne
des HAU 2 und stellen ihren Besuch in Grotowskis Laboratorium und ihre
Probenarbeit mit einem polnischen Übersetzer dar. Zum Schluss dann das
Ergebnis dieser Arbeit: Anhand von Originalfilmen, die zeitgleich auf
den Monitoren laufen, spielen die New Yorker Schauspieler die letzten
zwanzig Minuten der "Akropolis"-Inszenierung nach - und zwar komplett
auf Polnisch.
Da sich auf den Bildschirmen nicht durchgängig verfolgen lässt, was
jeder einzelne Schauspieler zu tun hat - denn es gibt z.B. Close
up-Einstellungen, die nur eine Person fokussieren und ähnliches mehr -
ist bei dieser Inszenierungs-Kopie keine Handlung zu erkennen. Was
effektiv auf der Bühne zu sehen ist, sind drei Schauspieler, die immer
wieder aus einer Wartehaltung in abstruse Verrenkungen verfallen,
polnische Texte singen/sprechen und dazu groteske Grimassen schneiden.
Das Ganze muss wie eine Parodie wirken, auch wenn alles, was gespielt
wird, dem Original, das auf einem von drei Flachbildschirmen verfolgt
werden kann, extrem nahe kommt. Für den Zuschauer sichtbar ist nur das
Äußerliche, die obskuren Bewegungen und die fremde Sprache, eine tiefere
Auseinandersetzung etwa mit den Gründen für dieses Art der Darstellung
bei Grotowski ist anhand des Spiels nicht nachvollziehbar.
Warum und zu welchem Zweck all das passiert, so behaupten die
Wooster-Leute samt Regisseurin sowohl auf der Bühne als auch im
anschließenden Publikumsgespräch, das wissen sie selbst nicht so genau.
Insgesamt bleibt auch in der Darstellung unklar, ob es sich hier
wirklich um Satire und also Kritik, etwa an Theaterdogmen, handeln soll,
oder um eine respektvolle Auseinandersetzung mit zwei Theaterlegenden,
oder um eine Kritik an falsch verstandener Traditionspflege. Für all das
gibt es Anhaltspunkte, all das wäre hineinzudeuteln oder auch Nichts,
eine klare Position wird nicht bezogen, und so widersprechen sich die
unterschiedlichen Aspekte ständig gegenseitig: Wie kann man etwa einen
falschen Umgang mit Theatertraditionen persiflieren, wenn ihn dafür erst
erfinden und selbst einen ganzen Abend über ausführen muss? Ganz
abgesehen davon: Die Gefahr ist groß, dass für den ahnungslosen
Betrachter mit durchschnittlichem Theater-Wissensstand von dem, was den
Abend über auf der Bühne zu sehen ist, nur der Eindruck eines großen
Selbsterfahrungstrips von Theaterleuten bleibt.
Nach der Pause spielt Scott Shepherd dann William Forsythe, zunächst im
Video, dann live auf der Bühne. Wir sehen einen eingebildeten
Theaterstar, der einer Journalistin (Sheena See) seine Arbeitsmethoden
"erklärt", während sich im Hintergrund zwei Tänzer (Ari Fliakos, Kate
Valk) abstrampeln. Hier impliziert das parodistische Element, das
wiederum vorherrscht, eine Kritik an Theaterheroen, die es sich ob ihres
Legendenstatus' erlauben können, unhinterfragt abstrakte Konzepte zu
produzieren, ohne an das Publikum zu denken. Wie aber könnte eine solche
Kritik die Intention der Wooster Group sein, wenn sie, selbst
Theaterlegende, genau das gerade tut? Oder soll das gar eine besonders
raffinierte Form von Selbstkritik sein - die leider ihre Wirkung
verfehlt?
Mutig ist es von Regisseurin Elizabeth LeCompte, dass sie immerhin
selbst den Finger in die Wunde des Abends legt: Am Ende des ersten Teils
stellt auf der Bühne eine Journalistin die Frage nach dem Warum? - und
erhält ein lapidares "I don't know" zur Antwort. Gleiches wiederholt
sich übrigens in der Realität, im Publikumsgespräch, sodass eine
Diskussion gar nicht aufkommen kann, und sich die Veranstaltung
größtenteils in Lobhudelei von Profi zu Profi erschöpft. Wenn Matthias
Lilienthal, Intendant des jüngst zum Theater des Jahres gewählten
HAU-Kombinats, zu Beginn der Spielzeit programmatisch verkündet hat,
offene Konstruktionen und das Zuschauen beim Scheitern interessanter zu
finden als gut abgehangene Theaterware, so entspricht dieser Abend dem
nur in Teilen. Man sieht hier das Scheitern einer Regisseurin, eines
Theaterabends, der die Bühne als Forschungsanstalt zu benutzen sucht -
jedoch nicht zur Erforschung allgemein menschlicher bzw. allgemein
relevanter Fragen, sondern zur Erforschung des Theaters und vor allem
der Theatermacher selbst. Das mag für Professionelle spannend sein, die
an theatertheoretischen Fragen interessiert sind - und tatsächlich hat
sich hauptsächlich Theatervolk eingefunden, um die Kult-Truppe zu
bestaunen - für den Laien ist es sterbenslangweilig.
Als ein einziger Zuschauer es tatsächlich wagt, im Gespräch auf
ausgesprochen freundliche Weise zu äußern, er habe sich gelangweilt, da
er weder Grotowskis und Forsythes Arbeit gut kenne noch Polnisch
verstehe, geht das Podium nicht weiter darauf ein, und unter einigen
Theaterleuten im Publikum beginnt Getuschel, Gelächter und Gestöhne.
Dieses arrogante Verhalten ist eine Unverschämtheit dem
"Normal"-Zuschauer gegenüber, für den Theater ja immerhin auch noch
gemacht wird - oder? Auf keinem Fall soll einer absoluten Devotheit dem
Geschmack des "breiten Publikums" gegenüber das Wort geredet werden, ein
unbequemes, nachdenkliches, intellektuelles Theater ist notwendig, und
es ist und bleibt eine Nischen-Veranstaltung und damit elitär, da kann
es keine Illusionen geben. Es gäbe aber weiß Gott relevantere Fragen,
mit denen sich avanciertes Theater beschäftigen könnte als mit sich
selbst. So wichtig ist das Theater nun mal nicht, im Gegenteil, es ist
in unserer Gesellschaft, so traurig das ist, leider ausgesprochen
irrelevant. Gerade durch solch selbstreferentielle Inszenierungen und
durch das egozentrische und selbstgefällige Gehabe Einzelner vergibt das
Theater die Chance, über seinen eigenen kleinen Kreis hinaus relevant
und interessant zu sein.