Der Abend beginnt mit einer schnellen Exposition auf der Vorderbühne, bei der die Situation, das Zusammentreffen einer Dinnergesellschaft, hauptsächlich über die Kostüme (Patricia Talacko), nur skizziert wird. Gregers Werle, nach Jahren nach Hause zurückgekehrt, erfährt von seinem besten Freund Hjalmar Ekdal, was sich ereignet hat in seiner Abwesenheit: Hjalmar hat eine Familie gegründet mit Unterstützung von Gregers' Vater, der ihm sogar die Braut dazu geliefert hat, sein ehemaliges Dienstmädchen Gina. Die erwartete ein Kind vom alten Werle, was Hjalmar natürlich nicht weiß: er hält die inzwischen 14jährige Hedvig für seine Tochter.
So weit, so Ibsen. Armin Petras, zukünftiger Intendant des Berliner Gorki Theaters, hat diesem bürgerlichen Familiendrama in seiner Inszenierung am Schauspiel Köln eine zusätzliche größere Dimension hinzugefügt, wobei er das Stück von 1884 behutsam modernisiert, aber durchaus nicht verpoppt hat. Bei Petras repräsentiert Gregers Werle die Generation der mit dem NS-System aufgewachsenen jungen Soldaten und Flakhelfer der letzten Kriegstage, die "Generation ohne Abschied" (Wolfgang Borchert), und nicht zufällig trägt er die Schnürsenkelbrille des Kriegsheimkehrers Beckmann aus "Draußen vor der Tür".
Auf Projektionsflächen an beiden Seiten der Bühne (Mascha Deneke) laufen fast durchgängig Videos oder werden Livekamera-Bilder gezeigt. Zunächst sehen wir in schwarz-weißen Originalfilmausschnitten Bomben und Panzer und vor allem die sich ergebenden jungen Wehrmachtssoldaten und Volkssturm-Trüppchen des Kriegsendes. Ab dem zweiten Akt, ab dem sich die Handlung in der Wohnung der Ekdals abspielt, illustrieren dann die Bilder auf den Projektionsflächen den Neubeginn und die damit verbundene Verdrängung von Judenmord und Krieg. Auch Familie Ekdal arbeitet in ihrem Atelier mit am kollektiven Vergessen: Wo bei Ibsen Fotografien retuschiert werden, statten die Eheleute hier die Bilder abgemagerter KZ-Häftlinge mit bunter Kleidung aus oder verschönern die Angeklagtenbank der Nürnberger Prozesse. Der Zuschauer kann das über die Livekameras mitverfolgen, die Projektionen werden zum integralen Teil der Inszenierung, der immer wieder ins Spiel eingebunden wird.
In dieser Familienidylle kann der idealistische Gregers mit seinem Wahrheitsfanatismus nur stören. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass Abrechnung Katharsis bewirke und dass der Mensch gestärkt aus der Zertrümmerung seiner Lebenslügen hervorgehe. Gregers’ moralistisches Programm kommt jedoch bei Familie Ekdal so wenig an wie zu Wirtschaftswunderzeiten beim deutschen Volk, und der gut aufgelegten Peter Moltzen läuft als Gregers/Beckmann im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder gegen Wände. Hier schwingt auch der Vorwurf der jungen Kriegsheimkehrer an ihre Elterngeneration mit - wie ihn Wolfgang Borchert und dessen Altersgenossen wieder und wieder formuliert haben - etwa im Streit zwischen Gregers und seinem Vater (Michael Altmann), einem freundlichen älteren Herren, der seine dunkle Vergangenheit hinter distinguiert-jovialem Auftreten verbirgt.
Familie Ekdal steht, im Gegensatz zu Gregers, für diejenigen, die nach ’45 so schnell wie möglich weitermachen, zur "Normalität" zurückkehren wollten. Janning Kahnert zeigt sehr überzeugend einen naiv-sorglosen Hjalmar, dessen schlichtes Gemüt die Tragweite der Vorfälle vermutlich ohnehin nicht begreift. Seine Frau Gina (Oda Pretzschner), schon bei Ibsen klüger als ihr Mann, verdrängt und verschleiert bewusst, hat sie doch selber Dreck am Stecken. Der Nachbar Dr. Relling (exakt: Dirk Lange) durchschaut die Situation, plädiert als außenstehender Kommentator des Geschehens jedoch für ein Aufrechterhalten der Lebenslügen zum Schutze der Familie und vor allem Hedvigs (Merle Chiara Wasmuth).
Armin Petras hält dieses Konzept, das sich immer wieder als ungemein schlüssig erweist, bis zum Ende durch, ohne dabei den Humor zu vernachlässigen. Die Inszenierung besitzt große Klarheit und eine für den Regisseur ungewöhnliche Langsamkeit, das aber ohne zu schleppen - laid back, möchte man sagen. Nie wird das Spiel hektisch oder ungenau. Die Figuren bewegen sich in traumwandlerischer Leichtigkeit, aber mit unabwendbarer Konsequenz auf die Katatrophe zu.
Viele verschiedene Assoziationen werden aufgenommen und eingeflochten: Da gibt es kurze O-Ton-Einspielungen von Rolf Dieter Brinkmann, in denen er wie so oft in seinen Texten in aggressiven Worten immer wieder den BRD-Provinzmief angreift, der aus dem zwanghaften Aufbau einer verdrängenden Gemütlichkeit nach dem Krieg erwuchs und bis in die 60er Jahre anhalten sollte. Brinkmann hat übrigens im Schultheater den Beckmann gespielt - und er hat lange in Köln gelebt. Und nicht nur hier stellt die Inszenierung einen Bezug zum Aufführungsort her. Gegen Ende des Abends gibt es einen Exkurs, Heinrich Bölls Nachkriegserzählung "Kumpel mit dem langen Haar" wird eingeschoben, während auf einer Leinwand im Hintergrund Bilder des zerstörten Doms und der Trümmerstadt vorbeiziehen. Und natürlich stehen das Rheinland mit Köln (Adenauer!) und vor allem auch dem nahen Bonn als Hauptstadt der BRD wiederum für den (westdeutschen) Neubeginn nach ’45.
Das Thema Nachkriegszeit mit Wirtschaftswunder und Verdrängung hat keine Konjunktur in einer Zeit, in der die Deutschen ihre Opfer und Helden wiederentdecken und sich für die menschliche Seite Adolf Hitlers interessieren. Trotz der derzeitigen Flut an Erinnerungsfilm, -literatur und -dokumentation wird der in dieser Inszenierung angesprochene Aspekt der jüngeren Vergangenheit zur Zeit in der öffentlichen Diskussion ausgespart. Zwar ist die Tatsache der Verdrängung nach ’45 an sich nichts Neues, aber mit dem (Wieder-)Aufgreifen dieser Thematik setzt die Inszenierung ein angenehmes Gegengewicht zum derzeitigen Mediendiskurs von Guido Knopp bis Speer und Er. Daneben zeigt diese thematisch für Armin Petras eher untypische Inszenierung, dass er nicht nur ostdeutsche, und das heißt auch: ihm biografisch nahestehende Geschichten überzeugend erzählen kann. Mehr davon!