"Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth ist ein Anti-Volksstück. Mit beißendem Sarkasmus wird das Schicksal der jungen Marianne erzählt, die auf Wunsch ihres Vaters den Nachbarn und Fleischer Oskar heiraten soll, sich aber am Verlobungstag mit dem Hallodri Alfred einlässt. Marianne bekommt ein Kind, der wilden Ehe geht die Romantik verloren, und der Ausbruchsversuch der jungen Frau wird schließlich durch die Gesellschaft brutal erstickt. Dimiter Gotscheff hat das Stück am Deutschen Theater Berlin inszeniert, wo 1931 schon die Uraufführung stattfand.
Der Regisseur hat seine Vorlage jeglicher Milieuzeichnung entkleidet. Die Bühne (Jens Kilian) ist leer bis auf die bereits aus vorhergehenden Gotscheff-Inszenierungen bekannten Stühle, auf denen die Figuren fast den ganzen Abend über sitzen, in immer neuen Anordnungen und Konstellationen. Wer nicht agiert schaut zu, oft schadenfroh feixend über das Unglück, das den anderen passiert. Gekleidet in zeitlos-typisierende Kostüme (Barbara Aigner) treten die Figuren mehr als Klischees denn als Charaktere auf: Peter Jordan als Alfred ist der gedankenlose Habenichts, der die Frauen nur benutzt, so lange es ihm passt, und der sich überall geschickt herausredet. Sein Freund, der Hierlinger Ferdiand (Martin Brauer), ist ein schmieriger Zuhältertyp, Havlitschek (Jürgen Huth) ein brutales Proleten-Ekel, die Großmutter (Margit Bendokat) ist ein hasserfüllter Hausdrachen und der junge Erich (Stefan Kaminski) ein grinsender Nazi-Knabe.
Diese Stilisierung, bei Horváth durchaus angelegt, korrespondiert mit Gotscheffs Absicht, nicht eine Geschichte aus der Vergangenheit zu erzählen, sondern wiederkehrende menschliche Verhaltensweisen zu zeigen. Das funktioniert zunächst wunderbar in einem fulminant unterhaltsamen, sogar lustigen ersten Teil, der ein bisschen aussieht wie Thalheimer plus Humor. Nach der Pause jedoch zieht sich der Rest des Abends sehr in die Länge. Nicht nur, das Gotscheff kaum gestrichen hat, er lässt sich und dem Text auch seeeeehr viel Zeit. Nach drei Stunden vermisst man dann doch mehr psychologische Durchleuchtung wenigstens der Hauptfiguren, die auf die Dauer zu eindimensional bleiben, wenn sie auch allenthalben mit großer Spielfreude dargestellt werden. Zwar hat schon Horváth den Großteil seiner Figuren in eine Richtung hin überzeichnet, bei Gottscheff jedoch bleiben sie in ihren Klischees so unmotiviert boshaft, als seien sie darauf aus, Marianne aus reinem Mutwillen zu vernichten. Aber diese Menschen sind keine Teufel, es ist viel schlimmer: Sie haben Werte und Überzeugungen, die ihr Verhalten begründen und legitimieren. Und vor allem haben sie sich selbst.
Der Klischeefalle zeitweise entkommen sind Sebastian Blomberg als Oskar und vor allem Almut Zilcher als Valerie. Oskar, zunächst nur ein lispelnder Jammerlappen, zeigt zwischendurch doch kurz Gefühle für „das gewesene Fräulein Braut", um dann nur wieder umso gehässiger auf Mariannes gesellschaftlichen Abstieg zu schauen. Am Ende stilisiert er sich zum großmütigen Retter, der das fehlgegangene, dumme Mädchen aus der Gosse zu sich heraufhebt.
Valerie spielt das Spiel der Männer mit, zieht sie an und serviert sie wieder ab, in dieser Hinsicht das Gegenbild zum Opfer Marianne, nicht Objekt wie diese, sondern Subjekt. Und doch lässt auch sie sich von den Männern erniedrigen und quälen - steht aber immer wieder auf und kämpft. Und versucht am Ende, aus weiblicher Solidarität oder aus Mitleid, Marianne zu helfen.
Fritzi Haberlandt als Marianne - in ihrem Debüt am Deutschen Theater - überzeugt mit intensivem Spiel, ist aber in ihrer Figur durch die Konzeption zu sehr auf die Opferrolle reduziert. Bei Horváth mag Marianne vielleicht naiv sein, doch sie ist auch selbstbewusst und schlagfertig. Bei Gottscheff liegt sie dann doch zu oft zerstört am Boden, das Bild verbraucht sich schnell. Es wäre schön gewesen, den zweiten Teil des Abends für eine ganz andere Art der Darstellung zu nutzen. So aber laufen sich die anfangs noch witzigen Stereotypisierungen leider sehr schnell tot.