Der Abend beginnt bei geschlossenem Vorhang. Die Mitglieder des Orchesters treten nach und nach auf und nehmen ihre Plätze auf der nach oben gefahrenen Orchestergraben-Bühne ein, die mit Beginn der Musik alsbald in die Tiefe entschwindet. Auf dem geschlossenen Vorhang thront eine großformatige Abbildung des alten BE-Logos, der Friedenstaube, darüber ein Strichcode. Regisseur Günter Krämer spielt in seiner sonst eher abstrakten Inszenierung von Brechts und Weills Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ die jüngere deutsche Vergangenheit mit.
Witwe Begbick, der Dreieinigkeitsmoses und Fatty, der Prokurist, die laut Libretto mit dem Auto in einer „öden Gegend“ liegen bleiben, finden sich unter einer schwarz-rot-goldenen Fahne wieder, die an einem hohen Mast befestigt ist, und aus der Hammer und Zirkel herausgeschnitten worden sind. In dieser Wüste DDR gründen die drei ihre „Netzestadt“ Mahagonny. Später wird sich eine riesige schwarz-rot-goldene Soufitte, die mal wie ein Schiffsrumpf, mal wie ein Dach aussieht, über die Leute von Mahagonny senken: Die Bedrohung des Hurrikans und gleichzeitig der Schutz vor ihm? Jedenfalls ist unter der BRD-Fahne fortan alles erlaubt in Mahagonny.
Günter Krämer hat zum Glück nicht den Fehler gemacht, im Spiel mit den historischen Zeichen nach Holzhammer-Methode zu verfahren. Bezüge werden nur angetippt, vieles bleibt diffus, sodass auf der einen Seite jeder Zuschauer seine eigene Assoziationskraft spielen lassen und das Geschehen auf der Bühne mit der eigenen Sicht der neueren deutsch-deutschen und wiedervereinigten Geschichte der Republik(en) in Bezug setzen kann. Auf der anderen Seite bleibt das Gefühl, dass die schwarz-rot-goldene Metaphorik nicht immer aufgeht - nicht alle dahin gehenden Bühnen-Eindrücke lassen sich stimmig in den Zusammenhang des Abends einordnen.
Was die Personenführung auf der Bühne und sonstige regiehandwerkliche Aspekte betrifft, so agieren Krämer und sein Ensemble höchst überzeugend, vielleicht, weil der Regisseur ursprünglich vom Sprechtheater herkommt, wo solche Fertigkeiten zur Grundaussattung eines Regisseurs gehören - ganz im Gegensatz zum Opernbetrieb. Und es gehört auch einiges dazu, die Masse an Darstellern, die hier auf der Bühne versammelt sind, zu leiten. In einer einfachen, aber eindrücklichen Szene platziert Krämer die Einwohnerschaft von Mahagonny über die komplette Breite und Tiefe der Bühne hinweg in Reihe und Glied auf schwarzen Holzstühlen. Alle tragen, wie noch häufiger an diesem Abend, Mickey Maus-Masken aus Plastik, und zeigen damit sinnfällig die forcierte Verspaßung sowohl Mahagonnys als auch der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Auch Jim, der gegen die Gleichschaltung aufbegehrt, weil es ihm in Mahagonny nicht gefällt, der immer wieder aufspringt und die Maske abnimmt, gibt schließlich auf: Mit einer kleine Bewegung des Kopfes fügt er sich ein, jetzt schaut er geradeaus wie alle.
Es gibt noch mehr klug inszenierte szenische Vorgänge und schöne Bilder zu sehen: Der Hurrikan kommt, die Formation löst sich auf, alle nehmen ihre Masken ab. In einer sehr energetischen, gleichzeitig fast gespenstischen Szene - die nur indirekte Beleuchtung von hinten tut ihr Übriges - werden die Stühle nach vorn gereicht. Die dort stehen, bauen direkt an der Rampe einen unregelmäßigen Deich aus den Sitzmöbeln. Jim wird ihn später umstoßen.
Auf der musikalischen Seite sei zunächst das sehr gut aufgelegte Orchester unter der Leitung David Stahls genannte, dem sein gelegentliches Eingreifen in die szenische Ebene große Freunde zu bereiten scheint. So spricht der Dirigent die Regieanweisungen zu Beginn des Abends direkt von seinem Platz aus ins Publikum und schickt später vom Orchestergraben aus einen Kronleuchter in den Bühnenhimmel. Auch sonst wird der Graben mehrfach als Spielort genutzt.
Das homogene Ensemble überzeugt durchweg, besonders gefallen Karan Armstrong als Witwe Begbick und Günter Missenhardt als Dreieinigkeitsmoses, beide höchst kraftvoll und auch darstellerisch souverän. Auch der dritte im Bunde, Burkhard Ulrich als Prokurist Fatty, fällt mit seinem klaren Tenor durch wohlgesetzte stimmliche Akzente auf, bleibt aber - auf Grund der Rollenanlage -, etwas im Hintergrund. Nicola Beller Carbone hat die Rolle der Jenny von Corinna Harfouch übernommen. An der Deutschen Oper hat man wohl einsehen müssen, dass eine Besetzung mit Schauspielern tatsächlich „so gut wie unmöglich“ ist, wie Kurt Weill selbst im Programmheft zitiert wird. Beller Carbone jedenfalls wird für ihre Darbietung am Ende am meisten bejubelt. Robert Brubaker (Jim), Clemens Bieber (Jakob), Markus Beam (Bill) und Harold Wilson (Joe) geben mit Verve und Spielfreunde die vier Holzfäller, die zunächst durch die erste Publikumsreihe, den Orchestergraben und über die Rampe toben, bevor sie auf der Bühne ankommen. Insgesamt fehlt jedoch ein wenig die Gelegenheit für die Solisten, stimmlich hervorzutreten - was einerseits an der Struktur der Musik liegen mag. Doch auch die schlechte Textverständlichkeit trägt dazu bei, dass sich der Zuhörer mehr auf das Instrumentale als auf den Gesang konzentriert. Die eigentliche Hauptrolle spielen das Orchester und die Chöre (Hellwart Matthiesen); letztere treten, schon quantitativ, höchst beeindruckend auf, und mit dem großen Chorfinale ist der Höhepunkt des Abends erreicht.