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März 2006
Nora Mansmann
für satt.org




Orest
von Georg Friedrich Händel

Komische Oper Berlin
Premiere: 26.02.06

Regie:
Sebastian Baumgarten

Musikalische Leitung:
Thomas Hengelbrock

Bühne:
Robert und Ronald Lippok

Kostüme:
Valerie von Stillfried

Mit:
Maria Bengtsson, Finnur Bjarnason, James Creswell, Valentina Farcas, Charlotte Hellekant, Maria Streijffert u.a.

Orest
Komische Oper Berlin


Masken

Iphigenie, einst durch die Göttin Artemis vor dem Opfertod bewahrt und nach Tauris versetzt, muss als Priesterin auf Befehl des Herrschers Thoas jeden Fremden opfern, der die Insel betritt. Ihr Bruder Orest, der von Furien verfolgte Muttermörder, sucht Schutz und Heilung auf Tauris und wird gefangengenommen. Iphigenie soll den Fremden opfern.
Der auf Tauris spielende Teil des Iphigenie-Mythos diente Georg Friedrich Händel als Stoff für eine Pasticcio-Oper, eine Zusammenstellung von Arien aus früheren Werken mit neuem Libretto. Am 26. Februar hatte Orest“ in der Regie von Sebastian Baumgarten an der Komischen Oper Berlin Premiere.

Hier spielt der Iphigenie-Mythos im Heute, und - geografisch korrekt - auf der postkommunistischen Krim. Der anti-illusionistische Bühnenraum wird hinten begrenzt durch einen hochaufragenden Gebäudeteil, ein zweckfreies Überbleibsel sozialistischer Architektur (Bühne: Robert und Ronald Lippok). Davor sitzt das Orchester, und zwischen ihm und der Spielfläche warten die Gesangssolisten auf funktionalen Stühlen wie auf der Probe auf ihre Auftritte, wechseln Kostüme, beobachten die agierenden Kollegen. Wer zum ersten Mal auftritt, hält kurz ein Schild mit seinem Rollennamen in die Höhe. Alles geschieht sehr beiläufig und unaufgeregt, ohne übertriebenen Zeigegestus.

Auch auf der Vorderbühne wird ein Raum nur angedeutet, eine verschiebbare Tür konstituiert Außen und Innen. An einem der beiden Resopal-Tische auf der Vorderbühne sitzen zwei russische Matrosen, die zwischen zwei Bissen immer wieder zu Balaleika und Akkordeon greifen und Rezitativ-Begleitungen liefern. Baumgarten und sein Dirigent Thomas Hengelbrock haben sich generell dafür entschieden, musikalisch keine falsche Authentizität zu simulieren, und die ungewöhnliche Besetzung wird vom Publikum gut angenommen. Neben einigen Geräuscheinspielungen und zusätzlichen Sprechtexten steht die dann doch eher traditionelle Darbietung der Arien durch das gesamte Orchester, das pointiert und knackig, aber durchaus nicht ohne Gefühl spielt.

Im Gegensatz etwa zur "Iphigenie" des Euripides steht im Libretto Giovanni Gualberto Barloccis (deutsche Textfassung: Bettina Bartz und Werner Hintze) nicht das Wiedersehen von Schwester und Bruder im Mittelpunkt, sondern die Bedrohung des Eheglücks von Orest und seiner Frau Hermione. Hermione ist Orest in Begleitung von dessen Freund Pylades nach Tauris gefolgt. Während die Männer geopfert werden sollen, will Thoas Hermione zur Frau nehmen.

In seinem sehr assoziativen Zugriff gelingen Baumgarten viele zwingende Bilder, die mehr eine intuitives Verständnis ansprechen, als dass sie restlos rational decodiert werden können und sollen. Die große künstlerische Ernsthaftigkeit, mit der das gesamte Team an die Arbeit herangeht, scheint sich auf die Zuschauer zu übertragen, die der Bühnenhandlung über große Strecken wie gefesselt folgen. Man hofft für Baumgarten und Co., dass diese Recht ungewöhnliche Offenheit und Langmut des Opernpublikums nicht nur durch die Unbekanntheit des Werkes, sondern vor allem durch die Überzeugungskraft der Arbeit bedingt ist.

Eine wichtige Rolle in der Inszenierung spielen Videosequenzen, die zum Teil auch Räume konstituieren, indem sie etwa verfremdete Wohnblocks, Plattenbauten und Innenräume zeigen. Baumgarten geht virtuos und fantasievoll mit den technischen Möglichkeiten um und nutzt sie auf sehr unterschiedliche Weise. Die Live-Kamera, bedient von den Darstellern selbst, überträgt Standfotos des singenden Pylades im Kerker oder gibt dem Zuschauer Einblick in eine winzige Modell-Landschaft im hinteren Teil der Bühne. In Orests Zelle befindet sich eine festinstallierte schwarz-weiße Überwachungskamera, die die klaustrophobe Situation des Gefängnisses nachvollziehbar macht. Die terroristische Videobotschaft wird ebenso zitiert wie die Politiker-Fernsehansprache - oder wir sehen minutenlang Vogelschwärme durch grauen Himmel flattern. Die Bilder werden mal auf die sozialistische Ruine im Hintergrund, auf das Gefängnis links oder auf einen Schlafraum rechts am Bühnenrand projeziert, dann wieder auf eine ausgerollte Papierbahn. Eine besonders schöne Idee: Als Hermione sich dem Thoas verweigert, packt er sie in eine riesige Umzugskiste, legt sich darauf und schläft ein, während das Innenleben der Kiste, Hermione beim Versuch sich zu befreien, außen auf die Kiste projeziert wird.

Trotz des ausführlichen Videoeinsatzes gehen die Darsteller keineswegs unter, sind allesamt extrem präsent. Baumgarten, der auch Sprechtheater inszeniert, fordert eine Menge von ihnen, und bekommt es, sowohl mimisch als auch im großen körperlichen Einsatz des Ensembles. Zudem gelingt es der Regie, die Akteure auf eine kunstvoll alltägliche Weise miteinander agieren zu lassen, während sie barocke Arien singen. Baumgarten weiß, dass es nicht nötig ist, die Emotionen der Figuren, die musikalisch deutlich genug ausgesprochen werden, durch die hohlen, in der Konvention erstarrten großen Gesten zu verdoppeln, die in der Oper so oft mit großen Gefühlen verwechselt werden.

Auch gesanglich kommt das Ensemble gut zur Geltung: Die hoch energetische Charlotte Hellekant in der Hosenrolle des Orest. Valentina Farcas als Hermione, zunächst leider mit einigen Ungenauigkeiten in der Intonation, die sie aber später in einer atemberaubenden Steigerung mehr als wettmacht. Maria Bengtsson als neurotische Iphigenie mit großer Intensität, Finnur Bjarnason als stimmlich etwas steifer Pylades, ein großartiger James Creswell mit vollem Bass als Thoas und die solide Maria Streijffert als lesbische(r) Philoktet.

Experimentelles Musiktheater wie der "Orest" von Sebastian Baumgarten mag nicht jedermanns Sache sein. Es ist aber, selbst bei Kritik an einzelnen Aspekten der Inszenierung, allemal spannender als die 20. konventionelle Mozart-Inszenierung. Höchst erfreulich, dass die Komische Oper hier wieder einmal die Sackgasse des verstaubten Repräsentationstheaters verlassen und einen Abzweig eingeschlagen hat, der nicht nur neue musiktheatralische Impulse bringt, sondern - dem stürmischen Applaus nach zu urteilen - in Berlin durchaus ein interessiertes Publikum findet.