Sebastian Baumgarten, einer der innovativsten Musiktheaterregisseure der Gegenwart und ständiger künstlerisch-philosophischer Grenzüberschreiter, lädt zusammen mit dem Kurator Anselm Franke zur "Wagner-Hörschule" ins HAU 1. An vier Abenden sollen vier Aspekte im Schaffen des Komponisten beleuchtet werden. Der erste Abend am 10. Juni 2006 steht unter dem Motto "Wagner und der Rausch".
Die erste Attraktion ist das Setting der "Hörschule": Die hundert Gäste nehmen auf der Hinterbühne an drei langen Tischen unter hoch gespannten gelben Baldachinen Platz (Raum: Natascha von Steiger). Man fühlt sich als Tafelrunde der Gralsburg, während eine handvoll Kellner beginnt, das versprochene thematische Essen aufzutragen.
Einen gelungenen künstlerischen Einstand des Abends gibt mit der Darbietung der "Bitt-Arie" des Amfortas der Bariton Wolfgang Schöne, der überraschend auf Titurels vom Band kommenden Gesang antwortet. Ziel des Abends sei, so erläutert Anselm Franke anschließend, den Monolog, mit dem Wagners Werk den Rezipienten überziehe in einen Dialog umzuwandeln. Das Publikum, das sich an den langen Tischen im Meter-Abstand gegenüber sitzt, befindet sich bereits im angeregten Gespräch - nicht immer über Wagner.
Während die Zuschauer den ersten Gang des Menus, die Untergrundsuppe, verspeisen, beginnt nun Gerd Rienäcker seinen Vortrag. Wagner selbst, so erklärt der Musikwissenschaftler, habe den Begriff des Leitmotivs nicht akzeptiert und stattdessen etwa von einem "Gewebe von Grundthemen, die sich auflösen und aufeinander zukommen" gesprochen. Am Beispiel der zuvor von Wolfgang Schöne vorgetragenen Arie zeigt Rienäcker die musikalischen Prozesse, die Veränderung und Verarbeitung von Motiven mit Musikbeispielen am Klavier. Das ist einerseits hoch interessant, bewegt sich jedoch andererseits leider stellenweise auf zu hohem Abstraktionsniveau für den musikalischen Laien. Die Gespräche an den Tischen werden dementsprechend mehr und lauter, sodass es bald schon rein akustisch nicht mehr möglich ist, genug Konzentration aufzubringen, um Rienäckers Ausführungen und die Musikbeispiele wirklich nachzuvollziehen zu können.
Eine Grundthese des Vortrags ist die enge Beziehung zwischen Inhalt und Form bei Wagner, die sich in der untersuchten Arie etwa in der Korrespondenz zwischen dem psychischen und physischen Zusammenbruch Amfortas' und einer rhythmischen und harmonischen Deformation der Motive und Themen zeigt. Im Anschluss an die Feststellung Rienäckers, dass "die Form aus dem Gleis" gehe, schlägt Sebastian Baumgarten einen Bogen zu zeitgenössischen technischen Neuerungen, beschreibt die mit der Erfindung und Etablierung von Eisenbahn und Telegrafie verbundenen Wahrnehmungsveränderungen in Analogie zur Aufgabe des harmonischen Zentrums bei Wagner. Im anschließenden Lichtbildvortrag von Stefan Schneider, der Dampflokomotiven und moderne Gebäude des 19. Jahrhunderts zeigt, wird diese Spur wieder aufgenommen, auch in den zeitgleich verlesenen zeitgenössischen (?) Zitaten, in denen unter anderem konstatiert wird, durch die neuen Kommunikations- und Fortbewegungsmittel würden die Entfernungen und damit die Räume selbst schrumpfen. Das instabil Werden der Raum-Zeit-Achse ebenso wie der Verlust des Zentrums, so Baumgarten abschließend, bedeute einen Kontrollverlust und damit Rausch.
Das Schöne und Erfrischende an Sebastian Baumgartens interdisziplinär-assoziativem und philosophisch geschultem Zugriff, der - in Abstufungen - jede seiner Arbeiten auszeichnet, ist die Tatsache, dass im Laufe des Abends Teil um Teil eines unendlich großen Puzzles entsteht, das das Publikum selbst zusammensetzen kann und muss. Scheinen einzelne Teile zunächst nicht zu passen, so ist es die Aufgabe des Zuschauers, selbst Verknüpfungen herzustellen. Diese Animation zum assoziativen Mit- und Selberdenken kann in höchstem Maße inspirierend sein, setzt jedoch eine recht hohe Vorbildung bzw. viel Übung in dieser Art des assoziativen Denkens voraus.
Nachdem der zweite Gang, "Himmel und Erd", verspeist ist, verlässt das Publikum die Bühne und begibt sich zum "Rheingold-Dessert" in den der Sitzreihen beraubten und mit Matten und Kissen zu einer gemütlichen "Liegelandschaft" umgestalteten Zuschauerraum. Hier spricht zum Abschluss des theoretischen Teils Friedrich Kittler unter anderem über die Ähnlichkeit Wagner'scher Vorspiele mit der männlichen Orgasmuskurve. Ein Grundthema des Vortrags ist schwer festzumachen, doch zwischen Kittlers sexualisierter Lesart von "Tristan und Isolde" und seinen Ausführungen über den Hauch als Ursprung der Musik finden sich wieder einige Puzzleteile. Der anregende Abend endet mit einem Konzert von Rechenzentrum, die sich auf ihre elektronische Art mit Wagners Musik auseinandersetzen, während Bilder aus alten schwarz-weiß Filmen und neuere Blockbustern wie "Krieg der Sterne" oder "Herr der Ringe" auf der Leinwand im Hintergrund übereinander herfallen.