Das „Micky Maus“-Camp
Fort Entenhausen
Eltern, die ihre Sprößlinge lieben und ihnen etwas gönnen oder einfach mal ein paar Tage Ruhe haben wollen, können heutzutage aus einer Fülle von speziellen Reiseangeboten für Kinder und Jugendliche auswählen. Ferienlager von kirchlichen Organisationen oder Sportvereinen sind meist die billigste Lösung, die lieben Kleinen können aber auch in der Provence felsklettern, im südenglischen Christchurch Englisch lernen oder an der Ostsee surfen und Tretbootfahren. Eine Attraktion lockt Kinder zwischen acht und zwölf Jahren in diesem Sommer in die Lüneburger Heide – in der Nähe von Walsrode schlug das „Fort Entenhausen“, das erste „Micky Maus“-Camp, seine Zelte auf und verspricht noch bis Anfang September „Fähnlein-Spaß“ und „Fähnlein-Sport“ ganz wie in Entenhausen.
Zum Glück ist das Fähnlein Fieselschweif, die Pfadfindergruppe von Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track, für das niedersächsische Lager aber nicht nur Vorbild, sondern auch Mahnung. In dem vielbeachteten, kontrovers diskutierten Aufsatz „Wehrsportgruppe Fieselschweif“, der auch in der historisch-kritischen deutschen Ausgabe der Werke des großen Disney-Comic-Künstlers Carl Barks abgedruckt wurde, charakterisiert der Duck-Experte Hartmut Hänsel das Fähnlein als Verbund mit straffer Disziplin, dem die Natur bloß als Kulisse für paramilitärische Übungen dient und in dem der einzelne vorrangig nach Orden und Ehrenzeichen strebt und bei Mißerfolg gnadenlos degradiert und erniedrigt wird. Davon ist im „Fort Entenhausen“ zum Glück nichts zu spüren, trotz der Nähe zum NATO-Truppenübungsplatz Bergen-Hohne, dem größten in Europa. Selbst am Bogenschießstand im Camp geht es ohne übermäßigen Ehrgeiz zur Sache: Schlapp segeln die Pfeile durch die Luft und bleiben meist ein paar Meter vor der Zielscheibe im Boden stecken. Als Beobachter muß man unweigerlich an die Tragikomödie „The Weather Man“ und die leidigen Bogenschießübungen von Nicolas Cages Filmtochter Shelley denken.
Orden kann man sich im „Micky Maus“-Camp nicht verdienen, und auch in einem weiteren entscheidenden Punkt haben sich die Planer des Lagers gegen die Entenhausener Vorlage entschieden: Jungen und Mädchen leben im „Fort Entenhausen“ einvernehmlich zusammen, zwar nicht unter derselben Plane, doch auf dem gleichen Zeltplatz. Solche Zustände wären in Entenhausen undenkbar, dort herrscht zwischen den männlichen Fieselschweiflingen und den weiblichen Kohlmeisen ein harter Konkurrenzkampf. Im „Fort Entenhausen“ sind die Jungs zwar deutlich in der Überzahl, aber schätzungsweise jedes vierte Kind ist ein Mädchen. Das hat Folgen für das tägliche Unterhaltungsprogramm: Aktivitäten wie „Extrem Sonnenbräuning“, „Hairstyling“ und „Musicaltanz“ stehen auf der Tagesordnung und an einem Tag öffnet sogar eine „Fieselverwöhnfarm“ seine Pforten und lockt mit eßbaren Quarkmasken, Fingerkuppenentspannungsbädern, Massagen, Gesichtspeeling, Dampfbädern, Bodypainting und Haaraufhellungen. Wie alle Freizeit-Angebote ist auch dieses freiwillig und wird ebenso gern von Jungen wie auch von Mädchen wahrgenommen – der Fieselschweifling von hier und heute präsentiert sich damit ausgesprochen metrosexuell.
Kopfloses Querlegen, beidseitiges Durchschlängeln, freihändiges Aufstoßen und fußfreies Nachhinken sind Leibesertüchtigungen, mit denen sich der Entenhausener Pfadfinder fit hält. Im „Micky Maus“-Camp setzt man dagegen auf hierzulande bekanntere Sportarten. Die Kinder können tagsüber Fußball, Brennball, Basketball, Volleyball und Tischtennis spielen und im auf dem Gelände befindlichen Waldsee Kanu fahren oder baden gehen – falls dieser nicht wie am Tag der Besichtigung aufgrund von Algenbefall gesperrt wurde. In Daniel Düsentriebs Werkstatt können die Kinder unter Anleitung Mini-Flöße, Windlichter und Postkarten basteln und in der „Schlauen Blauen Bude“ – einem blau angestrichenen Bauwagen, der Assoziationen zur Kult-Kindersendung „Löwenzahn“ weckt – Hörspielen lauschen und „Lustige Taschenbücher lesen“. Was Peter Lustig wohl zum kollektiven Comiclesen und der Gemeinschaftsandacht von Drei-Fragezeichen-Hörspielen sagen würde? Und was halten Disney-Puristen davon, daß in der „Schlauen Blauen Bude“ nicht nur Lustige Taschenbücher, sondern auch Paperbacks von Fix und Foxi ausliegen? Und wie beurteilen „Die Falken“, der aus der sozialistischen Arbeiterbewegung hervorgegangene Kinder- und Jugendverband, wohl den Umstand, daß auf ihrem ehemaligen Lagerplatz heute ein „Micky Maus“-Camp steht? Es bedarf wenig Phantasie, um diese Fragen zu beantworten.
Die Kinder zelten auf einer Fläche, die von einem Holzfort umgeben ist, das der Vorbesitzer des Geländes, ein archäologischer Verein, errichten ließ. Mit einfachen Mitteln haben die Planer die Stätte in das „Fort Entenhausen“ verwandelt: Die umgebenden Baracken wurden bonbonfarben angemalt, die Toiletten- und Duschcontaineranalge heißen nun „Waschhausen“, am Ufer des Badesee kann man Tick, Trick und Track im Gehölz als Pappkameraden entdecken, ein einzelnes Grammophon und ein altes Telefon in „Oma Duck’s Café“ beschwören den Zeitgeist der klassischen Entenhausener Comics. Namen, Farbe, Kinderstühle von Ikea und ein bißchen Trödel … Mehr „Disney Magic“ braucht es nicht, um den Kindern ein zweites Entenhausen vorzugaukeln. Dabei sind sie fast allesamt Kenner der Materie und Leser des „Micky-Maus-Magazins“, von dem zur Zeit etwa 330.000 Exemplare pro Woche verkauft werden. Der Umstand, daß sich die Kinder im Camp so bereitwillig und leicht hinters Licht führen lassen, ist ein Indiz für die Qualität und Stärke der Disney-Figuren und insbesondere der Gestalten der Duck-Familie.
Der siebentägige, jeweils samstags beginnende Camp-Aufenthalt kostet 249 Euro. Im Preis inbegriffen sind ein Ausflug in den Serengeti-Park Hodenhagen, der Besuch eines Reiterhofs und die Übernachtung in einer Scheune: für Allergiker ohne, für die anderen mit Heu! Drei Mahlzeiten erhalten die Kinder pro Tag: ein Frühstücksbufett, mittags Imbisse wie Pizza, Hot Dogs, Schinken- oder Käsebaguettes und abends ein Drei-Gänge-Menü mit Salat und Nachtisch … „Besser dick und fett und verweichlicht, als mitten in der Natur verhungert!“, heißt schließlich eine der Lebensmaximen von Tick, Trick und Track. Auch die Vegetarier müssen im „Micky Maus“-Camp keinen Kohldampf schieben und bekommen zu allen Fleischgerichten Alternativen geboten, überdies stehen den Kindern den ganzen Tag über Obst und Tee und Mineralwasser zur Verfügung. Gelegenheit, ihr mitgebrachtes Taschengeld auszugeben, haben die Kinder eigentlich nur am Camp-Kiosk – dementsprechend lang sind die Warteschlangen während der Öffnungszeiten.
Am ersten Abend wird jeder Kohlmeise und jedem Fieselschweifling eine kleidsame Fellmütze überreicht – das Tragen der Mütze ist allerdings keine Pflicht. Das verteilte „Micky Maus“-Campmagazin kann allerdings nicht mit dem Pfadfinderhandbuch des Entenhausener Fähnleins Fieselschweif mithalten. Dieses ist „eine unerschöpfliche Grube des Wissens“, wie man in Entenhausen sagt, hat die Größe eines normalen Taschenbuchs, enthält alle Schriften, die es gibt, und verfügt sogar über ein eigenes Kapitel zum Thema Weltraumsprachen. Das kann lebenswichtig sein. Vielleicht ist das sogenannte „schlaue Buch“ ja eine Art Black Berry – was wieder einmal zeigen würde, daß uns Entenhausen in technologischer Hinsicht weit überlegen ist. Immerhin informiert das im Camp erhältliche Magazin darüber, wie man Fisch dörrt, was M.K.T.T.R.S.F.J. bedeutet und wie man sich effektiv gegen Mücken schützt („Gesicht und Hände mit Matsch oder Asche einreiben“).
Vier bis sechs Kinder schlafen in einem Zelt zusammen, nicht in Feldbetten, sondern auf selbst mitgebrachten Isomatten und Schlafsäcken. Dementsprechend hektisch geht es bei stärkeren Regengüssen zu: Während die einen Kinder voller Eifer Gräben ausheben und Wasser abschöpfen, hüpfen die anderen beidbeinig von einem Schlammloch zum nächsten. Eine Regenattacke gehört zu jedem richtigen Zeltlager und erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl wie in Woodstock – mehrere verregnete Tage hintereinander würden den Kindern im „Micky Maus“-Camp jedoch arg aufs Gemüt schlagen. Zwar gibt es zu jedem Tagesprogrammpunkt eine Sonnen- und eine Regenvariante, doch die Zahl der trockenen Plätze im Camp ist begrenzt, so daß bei den Kindern ebenso wie bei den Betreuern rasch ein Lagerkoller droht.
Eine andere Urkraft, gegen die viele Kinder ankämpfen müssen, ist Heimweh. Für die meisten Jungen und Mädchen ist der Aufenthalt im „Micky Maus“-Camp die erste Reise ohne Eltern – und wenn der eine oder die andere abends vor dem Einschlafen noch einmal kurz zum Handy greift und zu Hause durchklingelt, fließen oft nach wenigen Worten die Tränen. Doch nur in einzelnen Fällen müssen Kinder tatsächlich nach Hause geschickt werden. Andere Kinder wiederum können vom „Micky Maus“-Camp gar nicht genug kriegen und liegen ihren Eltern so lange in den Ohren, bis deren Aufenthalt verlängert wird. Der Rekord beträgt derzeit drei Wochen, die ein Junge im „Fort Entenhausen“ in einer Zeitschleife ähnlich wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ verbracht hat.
Die pro Woche bis zu 300 Kinder im Camp werden von vierzig bis fünfzig Teamern zwischen 21 und 30 Jahren betreut, den sogenannten Waldmeistern. Auf ihre Aufgaben im Camp werden sie in einem fünftägigen Seminar vorbereitet. Veranstaltet wird das „Micky Maus“-Camp von RUF Jugendreisen in Zusammenarbeit mit dem deutschen Disney-Verlag Egmont Ehapa. Der RUF-Geschäftsführer Thomas Gehlen kann sich in Zukunft auch ein „Coca Cola“-Camp oder eine Kooperation mit Sportartikelhersteller vorstellen – und hält diese Konzepte nicht nur für Kinder und Jugendliche attraktiv. Das „Bacardi“-Camp, die „Dunhill“-Safari, die „Cartier“-Kreuzfahrt … Die Vertriebs- und Imagevorteile für die Anbieter liegen auf der Hand, doch ob und welchen „Reisemehrwert“ der Kunde dadurch erhält, bleibt abzuwarten.
Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 28. August 2006.