»Meistersinger«
in der Volksbühne
Frank Castorf inszeniert Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ - große Oper an der Volksbühne? Auch wenn das Publikum teilweise nach Bayreuth aussieht, bleibt Castorf natürlich Castorf und besetzt die meisten Partien mit Volksbühnenveteranen wie Bernhard Schütz und Sophie Rois. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Regie-Gag, der Entscheidung liegen musikalisch-inhaltliche Überlegungen zu Grunde. Nach der Premiere am Grand Théâtre de Luxembourg im Mai läuft „Meistersinger“ nach Wagner und Toller seit Beginn der Spielzeit an der Berliner Volksbühne.
Castorf nimmt sich sehr zurück in dieser Produktion - zur Strafe wird die Regie in den Rezensionen als zu zahm bezeichnet. Auch wenn man dem Volksbühnenintendanten Bescheidenheit nicht zugestehen mag, scheint dies doch der Grund für den vorsichtigen Zugriff zu sein: ein Respekt vor Werk und Musik, der sich aus dem Bewusstsein speist, sich mit einer Operninszenierung auf fremdes Territorium begeben zu haben.
Zunächst fällt im Vergleich mit einer ganz anderen aktuellen Inszenierung sehr positiv auf, wie intensiv hier an der musikalischen Seite des Abends gearbeitet worden ist: Klaus Maria Brandauer hat sich in seiner hochgehypten Dreigroscheninszenierung so erschreckend und unverschämt wenig für die Musik interessiert, dass er sie einfach ignoriert hat. Zwar ist es legitim, als Fachfremder nicht die Kenntnisse und Fähigkeiten eines ausgebildeten Opernregisseurs zu haben. Wenn man trotzdem Oper (oder Dreigroschenoper) machen will, sollte man sich aber entsprechend kompetente Mitarbeiter ins Boot holen. Das hat Castorf getan und sich gemeinsam mit ihnen Gedanken darüber gemacht, warum und wie die Inszenierung einer Wagner-Oper für ihn und für sein Publikum interessant sein könnte, und welche Konsequenzen das für die Umsetzung haben muss. Er tut gut daran, nicht einfach die Konventionen des Opernbetriebs äußerlich anzunehmen, wie das die meisten Gelegenheitsoperregisseure tun, ohne ein tieferes Verständnis für die Kunstform zu entwickeln. Stattdessen hat er mit seinem Team einen eigenen Zugang zu den „Meistersingern“ gefunden und das Werk entsprechend bearbeitet.
Das Original wurde auf knapp drei Stunden gekürzt und verdichtet (etwa durch das Weglassen von Wiederholungen). Zusätzlich eingefügt wurden Texte aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse Mensch“. Die Besetzung der meisten Rollen mit Schauspielern ist der Versuch, den Wagner-Gesang weniger von der musikalischen, als von der textdeklamatorischen Seite anzugehen, die für Wagner bei der Vertonung seiner Dichtungen tatsächlich eine große Rolle spielte. Auch die Besetzung des Orchesters folgt einer Intention des Komponisten und radikalisiert sie: Wagner schwebte für seine „Meistersinger“ ein leichteres Orchester vor, in der Volksbühnen-Version wurde auf Streicher ganz verzichtet, stattdessen sitzt im Orchestergraben ein Bläserquintett, das in der Lage ist, die Polyphonie in größter Transparenz darzustellen. Hinzu kommen ein Synthesizer, der die Parts von Harfe, Laute und Orgel übernimmt, und zwei Klaviere, um den ganzen Wagner-Satz und kraftvolle Tutti herstellen zu können.
Die Rolle des Walther von Stolzing, die die kompliziertesten Kantilenen beinhaltet, hat der Tenor Christoph Homberger übernommen, der (gemeinsam mit Christoph Keller und Stefan Wirth) auch für die musikalische Konzeption und Leitung verantwortlich zeichnet. Frank Bauszus (Bar), Anna Kratky (MS) und Ruth Rosenfeld (S) übernehmen ebenfalls Gesangsparts, ohne jedoch festen Rollen zugeordnet zu sein - alles weitere obliegt den Schauspielern Bernhard Schütz (Hans Sachs), Max Hopp (Beckmesser), Sophie Rois (Eva), Winfried Wagner (David), Axel Wandtke (Fritz Kothner) und Silvia Rieger (gleichzeitig als Magdalene und Veit Pogner). Auf erfrischende Weise hat dabei einerseits jeder seinen individuellen „Sing-Gestus“, wobei gelegentlich auch ironisiert wird. Andererseits jedoch halten sich die sprechsingenden Schauspieler durchaus an Rhythmus, Tonhöhe und Melodie, und besitzen dabei trotz der für sie als Laien sehr anspruchsvollen Partien eine große Leichtigkeit, gepaart mit einer tiefen Ernsthaftigkeit der Musik gegenüber, die nicht auf die leichte Schulter genommen oder mutwillig verjuxt wird. Erfrischend auch der intensive Körpereinsatz, wie er zwar aus Castorf-Inszenierungen, aber weniger aus Opernproduktionen bekannt ist, und die große Energie, die er erzeugt. Auch die professionellen Sänger sind zu loben, wenn sie ohne Berührungsängste gemeinsam mit den gewohnt furchtlosen Volksbühnenstars durch Jonathan Meeses Monumentalbühnenbild fegen, das sich bei dieser zweiten Zusammenarbeit mit Castorf viel besser in die Inszenierung einfügt - oder die sich ins Bühnenbild? Bei den „Meistersingern“ verbinden sich Castorfs und Meeses Bilderwelten, statt wie in „Kokain“ nur beziehungslos nebeneinander zu stehen.
Der Abend ist von einer erstaunlichen Kompaktheit und Dichte, die Handlung geht straff voran, es fehlen die Castorf’schen Leerlauf-Löcher, allenfalls die mehreren Schlüsse, Trugschlüsse sozusagen, ziehen das Ganze gefühlsmäßig etwas in die Länge. Die Antisemitismus-Problematik wird angerissen, interessiert Castorf jedoch weniger. Sein Thema ist das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Das illustrieren die Texte aus Tollers „Masse Mensch“ ebenso wie die Auftritte des „Chors der werktätigen Volksbühne“, der aus Mitarbeitern aus Kantine, Büros und Gewerken besteht und wie die Kollegen Schauspieler richtig gut singen kann.
Die vielen volksbühnenfremden Zuschauer sind, anders als ihre Bayreuth-Kostümierung nahelegt, sehr aufgeschlossen und offenbar recht angetan von dieser ungewöhnlichen Operninszenierung. Die wenigen Menschen, die den Saal in dieser 5. Berliner Vorstellung der „Meistersinger“ frühzeitig verlassen, gehören ihrem Äußeren nach eher dem normalen Volksbühnen-Publikum an und halten wahrscheinlich den Wagner nicht aus. Dabei ist er in dieser abgespeckten, gekürzten Version sehr gut anzuhören, ohne dass die Musik unangemessen simplifiziert würde. Ein anregender Abend, für Volksbühnen- wie für Opernfreunde.