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22. Juli 2008 |
Anne Hahn für satt.org |
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Armes BerlinÜber einen recht seltsamen Stadtführer für Lebenskünstler von Luise und Bernd WagnerDies ist ein zutiefst widersprüchliches Büchlein. Ich winde mich als Rezensentin. Natürlich sind Rezensenten im Allgemeinen nicht gerade reich. Reich an Lesestoff und Erfahrungen mannigfacher Romanhelden, aber mit dem Geld könnte es besser stehen. So ein Buch, das muss an dieser Stelle auch einmal bemerkt werden, muss bestellt, gelesen und überdacht werden, dann auch noch beschrieben, abgewogen und beurteilt werden. Was bekommen wir dafür? Es lohnt nicht! Als Berufsziel schlagt euch das Rezensentenleben aus dem Kopf, liebe Grundschüler! Werdet Rennfahrer oder Fußballer, das bringt mehr! Aber zurück zum eigentlichen Gegenstand dieses Textes. „Berlin für Arme“ heißt ein Buch, das ein Vater mit seiner Tochter in liebreizender Absicht verfasst hat, ergänzend und als interaktiv preisen die Autoren die Internetseite berlinfuerarme.de. Es geht um „Die Armen“ in Berlin. Sollte man meinen. Im Vorwort schwärmen die Autoren: „Armut schändet nicht. Im Gegenteil: sie ist ein Zustand, der nicht nur im Neuen Testament verherrlicht und mit Weisheit und innerer Harmonie in Verbindung gebracht wurde.“ Aha? Da hab ich mich aber immer anständig verguckt, in den Pinten dieser Stadt, jenseits der Mitternacht ... Der Idealzustand der Armut, wie ihn die Autoren implizieren, hat mit einem gehörigen Maß an Intellekt und Entsagung zu tun. Wer nicht damit gesegnet ist, wird den Charme und Witz dieses Druckerzeugnisses nicht zu würdigen wissen. Es beginnt mit der Antragstellung auf Leistungen nach dem ... Gähn. Übrigens ist die Antragstellung bei diversen öffentlichen Ämtern bereits ausgiebig und erheblich zwerchfelltraktierender von den Lesebühnenautoren dieser Stadt thematisiert worden. Diese sind schon längst Spezialisten der gepflegten Armut. Philosophisch untermauert und künstlerisch aufbereitet wurde die Berliner Armut bereits vor etlichen Jahren durch Aktivisten um Guillaume Paoli, die sich „Glückliche Arbeitlose“ nennen. Lassen wir die Einstiegslamenti beiseite und loben, was lobenswert ist – „Berlin für Arme“ weist allerhand Tipps und Preisvergleiche auf, Rezepte und Adressen für die Besitzer schmaler Geldbörsen. Wo Möbel umsonst errungen, Äpfel, Birnen und Mirabellen gepflückt, das Antlitz umsonst geschminkt und Kino geschaut oder Museen besucht werden können, steht hier aufgelistet. Der Tipp „Besuchen Sie, wenn Sie wieder einmal nach Bangkok kommen, die Kao San Road. Geben Sie Ihr Passbild in einem der dortigen Läden ab und bestellen den Ausweis Ihrer Wahl. Vom Führerschein über den Internationalen Studentenausweis bis zum Journalistenausweis...“ erscheint hingegen seltsam. Wie komme ich umsonst und vor allem „wieder einmal“ nach Bangkok? Und wie witzig ist folgender Rat? „Wollen Sie gern Opfer einer Entführung mit kostenloser Beköstigung werden, empfehlen wir den Jemen oder Kolumbien.“ Später geht es auch wieder um Berlin. A propos, liebe Verfasser, ein Tipp an Euch; Schwarzfahren kostet immer noch 40 Euro Strafe, nicht 60, wie Ihr argwöhnt. Und die Sache mit „Hinten-Stempeln“ ist schon seit Jahren von den Kontrolletis durchschaut worden, die neue Masche heißt: gar nicht stempeln und dann verwundert mit Russisch oder Türkischkenntnissen glänzen ... Leider wurde hier die Chance auf einen mutigen Text, witzig gefasste Kritik an politischen Unzulänglichkeiten und Infos über weiterhelfende Netzwerke verschenkt. Nur die kleinbürgerliche Mittelschicht, die sich schenkelklopfend an der tatsächlichen Armut ihrer Mitbürger schadenfreut, wird das ganz und gar nicht kostenlos erhältliche Buch goutieren.
Bernd und Luise Wagner: Berlin für Arme |
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