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April 2001
Bodo Mrozek
für satt.org



Bodo Mrozek:
Der tote Körper des Sturmführers

Erschienen am Samstag, den 7. April 2001 in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Nr. 83, Seite BS 2.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

Der tote Körper des Sturmführers

Ein Grab wird zum Politikum:
Warum die Grünen sich mit dem SA-Mann Horst Wessel beschäftigen


Der Friedhof an der Mollstraße, Ecke Prenzlauer Allee will so gar nicht in die Gegend passen. Das Gräberfeld ist ein stiller, vom Verkehr umtoster Archipel, eine beschauliche Oase für Pflanze, Mensch und Tier. Bis vor kurzem waren hier noch Nachtigallen und Fledermäuse heimisch und auch der seltene Hirschkäfer schätzte diesen Ort. In jüngster Zeit stören aber ungebetene Gäste die Idylle. Streunende Katzen und Marder, die Jagd auf die seltenen Vögel machen, sind dabei das geringere Übel. Andere Störenfriede haben den Friedhof zum Politikum gemacht. Hier liegt der Nationalsozialist Horst Wessel begraben.

Der Stein des Anstoßes ist knapp einen Meter hoch, und nur schwer zu finden. Kein Hinweis deutet auf das umstrittene Grab, doch während die umliegenden, von Efeu überwucherten Gräber längst vergessen scheinen, findet man hier oft ein paar dürre Sträuße und manchmal auch Kränze mit Schleifen: „Horst, wir vergessen Dich nie.“ Der Ärger begann schon mit dem Fall der Mauer, als ein lebhafter Trauerkult einsetzte. Alte und neue Nazis kamen erst einzeln, dann in Gruppen, mittlerweile wird das stille Gedenken immer lauter: Zum Todestag Wessels am 23. Februar melden immer wieder der Polizei einschlägig bekannte Neo-Nazis Demonstrationen an. Mit einem Stadtspaziergang zu den „Stätten des Wirkens von Horst“ wollten schon vor Jahren dessen selbsternannte Nachfahren im Geiste ihrem Vorbild huldigen, mit Fahnen, Trommeln und Fackeln. In diesem Jahr verhinderte erstmals ein „demokratisches Bündnis“ die Nazidemonstration am Prenzlauer Berg.

Friedhofsamtmann Eichner versieht hier seit 1957 seinen stillen Dienst. Er bewohnt ein kleines Häuschen am Rand des Gottesackers. Eichner gehört zu den Leuten, die sich über den Untergang der DDR nicht nur freuen konnten. Für den Antifaschisten brach eine Welt zusammen, als sein Wohnort sich plötzlich ungeahnter Prominenz erfreute: „Es ist doch unglaublich, daß die Nazis unter Polizeischutz in Gruppen zum Grab geleitet werden“, ereifert er sich. Tatsächlich hatte Innensenator Werthebach noch vor zwei Jahren einen Aufmarsch verboten, eine „Mahnwache“ aber genehmigt. Eichner war entsetzt: „Wer ist dieser Wessel, daß man ihn unter Staatsschutz stellt?“

Horst-Ludwig Wessel war ein Jura-Student und wohnte in Friedrichshain. Als Sohn eines deutschnationalen Pfarrers zog er aus Bielefeldt in die älteste Gemeinde Berlins, St. Nikolai, auf deren Friedhof beide heute begraben liegen. Schon 1926 trat er in die NSDAP und deren „Sturmabteilung“ (SA) ein, im Berliner Bötzow-Viertel wirkte er in deren Standarte I. Seit 1929 führte er den SA-Trupp 34 an, im „Sturmbezirk Friedrichshain“, einem der am härtesten umkämpften Quartiere. Obwohl diese Gegend als rot galt, war Wessel außergewöhnlich erfolgreich. Die Zahl seiner Gefolgsleute stieg von ursprünglich 30 bald auf 250 Mann– darunter nicht wenige vormalige Kommunisten. Das mußte nicht nur dem Doktor Goebbels auffallen, sondern auch den Rotfront-Kämpfern. „Wie lange noch?“, fragte ein kommunistischer Steckbrief 1929, der eine Zeichnung von Wessel in SA-Uniform zeigte, und forderte: „Roter Arbeiter, merk Dir das Gesicht!“ Ein Jahr später überfiel der Kommunist Albrecht „Ali“ Höhler mit mehreren Genossen Wessel in seiner Wohnung und schoß ihm in den Hals.

Hintergrund des Überfalls war eine Mietstreitigkeit. Wessels Wirtin, die Witwe eines Rotfrontkämpfers, hatte sich von ihrem Untermieter betrogen gefühlt und Hilfe aus einem nahen kommunistischen Sturmlokal angefordert. Die Rotfrontkämpfer der 3. Bereitschaft aus der Mulackstraße wollten, so sagten sie später vor Gericht, Wessel eigentlich nur „eine proletarische Abreibung“ verpassen. Es bleibt ungeklärt, ob sie ihn vorsätzlich erschossen haben, oder sich der Schuß versehentlich löste, worauf immerhin der ungewöhnliche Einschußwinkel deutete. Vermutlich, so rekonstruierten Thomas Oertel und Heinz Konobloch später in ihren Büchern, hätte Wessel gerettet werden können, hätten die SA-Leute nicht einen jüdischen Arzt abgewiesen. Der „arische“ Arzt kam zu spät, Wessel starb knapp sechs Wochen später im Alter von 22 Jahren an einer Blutvergiftung.

Der NS-Propaganda kam der Tod gerade recht. Obwohl unter denkbar banalen Umständen zu Tode gekommen, wurde Wessel zum quasireligiösen Opfer verklärt. Endlich hatte der vielbeschworene „unbekannte SA-Mann“ einen Namen und ein Gesicht, noch dazu ein bekanntes. Das Wessel zugeschriebene Kampflied, das tatsächlich wohl auf einem Leierkasten-Gassenhauer beruhte, erkor man als Zusatz der Nationalhymne. Der heutige Rosa Luxemburg-Platz erhielt Wessels Namen, das Friedrichshainer Krankenhaus ebenso, schließlich hieß der ganze Bezirk Friedrichshain - ein vergessenes historisches Detail im Namensstreit – „Horst Wessel“. Aus dem Organisator rassistischen Straßenterrors war über Nacht eine Art Nationalheiliger geworden, ein „brauner Christus“. Wessel sei einer, der rufe: „Kommt zu mir, ich will Euch erlösen“, dichtete der Reichspropagandamisnister.

Zentraler Ort dieses Kultes war dabei das Grab, das fortan als Aufmarschplatz diente. 1945 ließen die Alliierten per Beschluß neben Denkmälern auch Nazi-Gräber schleifen, und auch das Wessel-Grab wurde von den Sowjets eingeebnet. Eigentlich hätte die Episode damit ihr wohlverdientes Ende finden können. Die Geschichte um Wessel reicht aber bis in die Gegenwart. Bisweilen treibt sie bizarre Blüten. Der neue Wessel-Tourismus, der Insidern zufolge zentral von Neo-Nazis aus dem Prenzlauer Berg organisiert wird, hat bereits ein Todesopfer auf dem Friedhof gefordert. Im März 1999 erschoß dort ein ehemaliger Friedhofswärter einen Einbrecher mit einer Jagdwaffe. Gerüchteweise ging dem Einbruch ein Streit um den Kampfhund eines Neo-Nazis voraus, den der Wärter nicht einlassen wollte. Der getötete Einbrecher soll einen SS-Ring an seinem Finger getragen haben.

Doch damit nicht genug: Im vergangenen Jahr sorgte ein anonymes Kommando „Autonome Totengräber“ für morbide Schlagzeilen, das Wessels sterbliche Überreste nach eigenen Angaben nächtlich exhuminiert und seinen Kopf in die Spree geworfen haben will. Der Friedhofsverwaltung zufolge hatten die Totenausgräber in ihrem postumen antifaschistischen Übereifer jedoch versehentlich das Grab des Vaters geschändet - und den falschen Schädel erwischt. Man darf am Wahrheitsgehalt dieser Episode ohnehin zweifeln, da laut Polizeibericht die Grabungen nur oberflächlich waren.

Für weiteren Ärger sorgte eine Informationstafel, die der Bezirk an der Karl-Marx-Allee anbringen ließ, wo sich einst der Tatort der Ermordung Wessels befand. Weil aber die Tafel neben einem undeutlichen Text ein Propagandafoto Wessels abbildete, lagen auch hier bald unerwünschte Blumengaben, und so verhüllte der Förderverein Karl-Marx-Allee die Tafel notgedrungen. Ein neuer Text ist mittlerweile erarbeitet, doch fehlen seit der Haushaltssperre die 1000 Mark für die neue Tafel. Im Haus der Demokratie versammelten sich nun auf Initiative von Julia Eckey (Bündnis90/Grüne) Vertreter verschiedener Initiativen, um zu beraten, wie denn mit dem untoten Toten umzugehen sei.

Dabei blieb strittig, ob man Wessels Todestag schlicht ignorieren, oder, wie Erich Kundel vom Förderverein Karl-Marx-Allee vorschlug, künftig zu einem „Tag der Aufklärung“ umdrehen solle. Nun wird immerhin erwogen, eine Informationstafel auf dem Friedhof anzubringen, das Grab wolle man jedoch nicht weiter verändern. Ein Blick auf rechtsradikale Internetseiten zeigt jedoch, daß auch die Neonazis nicht sonderlich erfreut über das braune Traditionsgebaren mancher Kameraden sind. Das Gedenken erfülle alle Klischees und sei der „nationalen Sache“ nicht dienlich, konnte man gestern an einschlägiger Stelle im Netz lesen. Sollte sich diese Erkenntnis bei den Wessel-Fans durchsetzen, so würde sich das Problem von selbst erübrigen. Daran will aber niemand so recht glauben. Opfermythen halten sich „ungeachtet aller Transformationen durch die Jahrhunderte“, schrieb der Historiker Reinhart Koselleck einmal. Ihr Wahrheitsgehalt spielt dabei meist keine Rolle.