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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen



August 2001
Mila Zoufall
für satt.org



Mila Zoufall:
Busy doing nothing

Der Text stammt aus der neuen Ausgabe (Sommer 2001) des
»müßiggangster«,
dem Kontemplationsblatt der Glücklichen Arbeitslosen.
Die Ausgabe kann gegen Porto und Spende bestellt werden bei:

Die
Glücklichen Arbeitslosen

c/o Im Stall
Kastanienallee 84
10435 Berlin

gluecklichearbeitslose
@satt.org



sattLINK:
Das Manifest der glücklichen Arbeitslosen
Ein latentes Manifest

Busy doing nothing

Der Mensch ohne Arbeit im internationalen Vergleich



Die Kunstkommission der "Internationalen Frauenuniversität", die letzten Sommer in Hannover stattfand, hatte die Glücklichen Arbeitslosen eingeladen, sich als Künstlerinnen an der "ifu" zu beteiligen. Rasch bastelte ich folgendes Konzept zusammen:
Die Studentinnen der Internationalen Frauenuniversität entziehen sich mittels dieses Seminars dem Reich der Notwendigkeit, um sich gemeinsam auf eine vierteljährige Forschungsreise in das Reich der Freiheit zu begeben. Sie entdecken, erleben und erkunden die komplexen Strukturen des Nichtstuns, der Muße und des Müßiggangs. Die jahrhundertealten Gegensätze und geographisch verschiedenen Erfahrungen sind der Gegenstand der gemeinsamen Annäherung an diese von Künstlern und Wissenschaftlern immer wieder vernachlässigten Themen. Mittels Experimenten an Körper, Geist und Seele erlernen die Studentinnen einen modern aufgewerteten Mußebegriff und dessen Einbindung in ihre Lebensplanung. Außerdem gilt es, den öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Nicht-Arbeit zu erfahren, zu bewerten und zu verändern.
Die Nicht-Arbeit muß im Rahmen der Frauenuniversität eine bedeutende Rolle spielen. Momentan wird sie in sämtlichen Themenbereichen ebenso negiert wie in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen, auf deren Banner nicht explizit "Arbeitslosigkeit" zu lesen steht. Aber wer kann schon ernsthaft behaupten, Arbeit sei ein bedeutenderes Thema als Nicht-Arbeit?

"Ich bewundere Menschen, die einfach mal nichts tun können, ich kann es leider nicht."
Die Schärfe der Kritik am Untätigsein offenbart doch auch die Anziehungskraft der angeklagten Lebensform. Weil er das Farniente im eigenen Umfeld nicht erträgt, sucht es der moderne Mensch in der Ferne - die westeuropäische Bevölkerung beschreibt diesbezüglich eine eindeutige Nord-Süd-Kurve. Gibt es diese starken geographischen Gegensätze außerhalb von Europa und wie stellen sie sich dar? Welche Ursachen liegen der weitverbreiteten Schizophrenie zu Grunde, sich nicht guten Gewissens dem Nichtstun hingeben zu können, obwohl doch dieser philosophisch und menschlich wertvolle Zustand höchst erstrebenswert ist?

Muße - einzig sinnvoller Lebensinhalt
Unter Muße ist keineswegs das sinnentleerte Abhängen nach Feierabend gemeint, und auch nicht der erholsame Waldspaziergang am Sonntag. Heutzutage ist es schwierig, Muße zu nden. Was aber verstand man unter Muße in der Antike, im Mittelalter, in der Aufklärung in Europa? In welchen Sprachen gibt es ein entsprechendes Wort? Wie kommt es, daß manche Sprachen keine Entsprechung aufweisen können? Wie hat sich der Mußebegriff außerhalb von Europa entwickelt und welche Rolle spielt Muße dort? Inwieweit tritt Muße heute nur noch in ihrer rudimentären Form in Erscheinung und welche Auswirkungen hat dies?

Die Reflexionslust des träumerischen Müßiggangs
Die Studentinnen versündigen sich kollektiv am Sittenkodex eingeteilter und geplanter Zeit, um bisher ungekannte Qualitäten an sich zu entdecken. Sich-an-den-Augenblick-Verlieren, Zögern, Zaudern, Bummeln, die Zeit verzögern, Umherschweifen, zweckloses Bewegen - zahlreiche vergessene und vernachlässigte menschliche Fähigkeiten gilt es neu zu erobern und wieder einzuführen.

Müßiggang ist aller Laster Anfang
Die Studentinnen üben sich in Müßiggang und damit verbundener Lasterhaftigkeit. Sie erforschen die unterschiedlichen Bedeutungen der modernen und traditionellen Laster auf internationaler Ebene. Es kommt zu einem LasterAustausch: Laster, die hier zugelassen sind, gelten dort vielleicht nicht. Die Stu-dentinnen erstehen somit ihr erstes Souvenir: Sie nehmen das schönste Laster mit nach Hause und sorgen dort für seine Anerkennung.

Missetaten der Arbeit
In den post-industriellen Ländern richtet Arbeit den Menschen dank Ergonomie, dank Teamwork und dank Umweltverträglichkeit zugrunde. In den übrigen Ländern richtet Arbeit den Menschen auf herkömmliche Weise zugrunde. Auf welche Weise beeinflußt Lohnarbeit die Gesundheit, soziale Bindungen und die Bindung des Menschen zur Natur? Inwieweit ist menschliche Arbeit Ursache für die fortschreitende Umweltzerstörung? Welche Verbrechen werden durch Arbeit, zum Zwecke der Arbeit, im Namen der Arbeit begangen? Westeuropäer haben es nicht mehr nötig, sich fremde Völker mit der Peitsche in der Hand zu unterwerfen, das Arbeitsethos wurde rafniert exportiert. Es gilt, die modernen Formen der Kolonisation zu erhellen, dank internationaler Präsenz von Betroffenen kann dieses Thema Schwerpunkt des Seminars sein.

Der erwerbslose Mensch
Erwerbslosigkeit wird zum Problem, wenn sie nicht frei gewählt, sondern auferlegt wird. Soziale und psychische Störungen können die Folge sein. Doch worin liegen die Ursachen dieser extremen Reaktionen? Wie können diese Ursachen beseitigt werden? Erwerbslosigkeit kann als Chance erlebt werden, wenn sie gesellschaftlich respektiert wird. Werden Arbeitslose gebraucht? Welche ungekannten Ressourcen können Erwerbslose ausschöpfen? Wie kann die gesellschaftliche Akzeptanz von Erwerbslosigkeit gefördert werden?

Überlebensstrategien
Historisch gesehen haben die unterschiedlichen Phasen der gesellschaftlichen Hauptbeschäftigungen zur Herausbildung individueller und kollektiver Versuche geführt, eigene Lebensstrategien herauszubilden und zu realisieren. Die Teilnehmerinnen werden aus eigener Erfahrung davon zu berichten wissen.
Welche Strategien entwickeln die Bewohner der verschiedenen Länder, wodurch werden sie bekannt und welche Zeugnisse gibt es davon?

Arbeit macht arm
Trotz ständigen Wirtschaftswachstums nimmt die Armut in vielen Ländern zu - in bezug auf Lebensstandard, Sozialversicherung und Lohnniveau wird es in Deutschland z.B. der kommenden Generation schlechter gehen als der Generation ihrer Eltern. Was unterscheidet diese neue Form der Armut von den bisherigen Formen der Armut - vergleichende Analyse. Arbeit fördert geistige Armut. Der Mensch entwickelt sich mit der Vielfalt der Situationen, die er erlebt. Inwieweit trägt Arbeit dazu bei, diese Vielfalt einzuschränken? Arbeit schränkt die Erlebnisfähigkeit des Menschen ein (z.B. durch Ausbildung bedingter Reflexe, durch einen vorgegebenen Lebensrhythmus, durch zunehmende Vermischung von privatem und Arbeitsbereich).
Wie entkommen wir der zunehmenden materiellen und geistigen Armut?

Feldforschung - Muße versus Freizeitindustrie
Das Seminar beschränkt sich natürlich nicht auf die von der Universität festgelegten Stunden, Experimente und Feldforschung werden sich in sämtliche Bereiche hineinziehen, in denen sich die Studentinnen während ihres Aufenthaltes bewegen.
Sie entwerfen ihren eigenen "Muße-Baum" - die unzensierte schematische Darstellung ihrer Fähigkeiten, Vorzüge und Begehren in bezug auf ihre Tätigkeiten, abseits von ökonomischen Zwängen - ihr individuelles Schlaraffenland. Die Gegebenheiten vor Ort, aber auch in den Herkunftsländern der Teilnehmerinnen werden untersucht und Hindernisse und Mängel an der Umsetzbarkeit der Muße-Konzepte erforscht.
Die Studentinnen werden aufgefordert, sowohl bewußt gesteuerte Spaziergänge in der gesamten Stadt zu unternehmen als auch ziellos zu flanieren. Es gilt zu ergründen, welche Orte nicht mit Arbeit in Verbindung zu bringen sind. Nach welchen Kriterien teilt sich der Mensch seine Zeit ein, wodurch wird der vorhandene Spielraum deniert? Die Studentinnen untersuchen Orte, die in der Freizeit aufgesucht werden und ergründen, welche Rolle Zweck, Zeit, menschliche Ressourcen und soziale Kompetenzen dabei spielen.

Methoden und Mittel
Umfangreiches Erfahrungs-, Text-, Bild- und Filmmaterial werden dem Seminar zur Information und Anregung zu Grunde gelegt. Die Studentinnen werden angeregt, durch eigene Kenntnisse und Recherche Material hinzuzufügen. Wichtig ist der persönliche Bezug zu den jeweiligen Themen, der mündliche Austausch unter den Studentinnen, die Diskussion und die gemeinsame Erfahrung während der Experimente. Es steht eine Diaserie mit dem Titel "Missetaten der Arbeit" zur Verfügung, die interessierte Studentinnen erweitern können. Außerdem könnte bei Interesse im Seminar eine Radiosendung entstehen - hier können die Erfahrungen der Glücklichen Arbeitslosen mit Radiosendungen einfließen.
Die Zahl der Teilnehmerinnen sollte 15 nicht überschreiten.
Diesem Kurs liegt kein Punktesystem zugrunde.


Das "Busy-Doing-Nothing"-Seminar hat stattgefunden. Dieser Umstand ist der hartnäckigen Kunstkommission zu verdanken, die ihre Auffassung von Kunst in zähen Kämpfen gegen leporellobastelnwollende Bürokratinnen durchsetzte. Es ist auch der Intelligenz und Ruhe der Künstlerin Anja Ibsch zu verdanken, die das Seminar mit mir gemeinsam durchführte. Besonders hervorgetan als Mußefeindin hat sich die Soziologin Regina Becker-Schmidt, die als ungeliebte Dekanin des "Projektbereiches Arbeit" fungierte. Frau Becker-Schmidt, es ist Ihnen trotz Ihrer nahezu unmenschlichen Anstrengungen nicht gelungen, unsere Mußestunden zu verhindern!
Eine interessante Beobachtung in Hannover war, daß die gesamte Organisation der temporären Universität auf Leid fußte. Gern zu leiden, scheint eine typisch weibliche Komponente zu sein. Die Organisatorinnen arbeiteten wie Galeeren-Sklavinnen, übten sich fleißig im Verzicht auf Schlaf und andere notwendige menschliche Tätlichkeiten, und nur schlimmere Krankheiten (z.B. Nervenzusammenbruch mit Einlieferung ins Krankenhaus) brachten sie zur Vernunft und hinderten sie am Weiterarbeiten. Dementsprechend gestaltete sich das Gesamtkonzept der Universität. Mein Versuch, wenigstens einen kollektiven Streiktag in die Wege zu leiten, um diese Bedingungen, über die sich die Damen ohne Unterlaß beklagten, gemeinsam zu diskutieren, traf selbstverständlich auf völlig taube Ohren. Entsetzt stellten Anja Ibsch und ich vor kurzem fest, daß ein Foto unseres "Langsamkeitswettbewerbs" die ansonsten sehr unansehnliche "Homepage" der ifu ziert. Jetzt wird so getan, als wären wir das Lieblingskind gewesen!
Ich schrieb nach Beendigung dieser dreimonatigen Erfahrung einen Brief{1} an die Organisatorinnen der Universität. Für seine Beantwortung fühlte sich dort niemand mehr zuständig. Der folgende Auszug soll genügen, um meine Eindrücke anzureißen:
"( …) So zeigte unser Projekt eine tiefgehende Spaltung des angeblich sich annähernden und zusammenschließenden Europas: In Ländern, die traditionell von einer ausgedehnten, strengen und disziplinierten Geldstruktur beherrscht werden (etwa Deutschland, USA etc.), ist bereits die Vorstellung, nicht permanent für Geld-, Dienstleistungs- und Warenproduktion in Bewegung zu sein, anstößig und traf auf Mißverständnisse. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die physische oder psychische Fixierung der fest in das System Integrierten neue, fremde und störende Tendenzen, in diesem Fall unser Projekt, ignorieren, ablehnen oder gar angreifen. Es zeigt deutlich, daß der Lebensplan oder strukturelle Aufbau privater wie kollektiver Lebenssysteme in den materiell reichen Ländern zu einer Armut an Spontaneität, Wahrnehmungsfähigkeit, menschlicher Kommunikation und Desinteresse an Neuem führt, eigentlich Dinge, die für einen gehobenen Lebensstandard gegenteilig erwartet werden. Das war sehr überraschend, zumal die Teilnehmerinnen ebenfalls europäischer Länder wie Portugal, Griechenland, Türkei und Rußland oder dem Globalisierungsprozeß zuzurechnender Staaten wie Indien, Brasilien etc., reges Interesse zeigten, Kontakte knüpften, über ihre eigenen Lebensumstände reflektierten und sich mit den anderen darüber austauschten. Hier wurde der Punkt unserer eigenen Erwartungen weit übertroffen, als wir feststellten, mit welcher Herzlichkeit und menschlichen Würde die Teilnehmerinnen miteinander und mit uns umgingen.
Durch die menschliche Sehnsucht nach Ruhe und Entspannung, Nähe und Verständnis, Kommunikation und Meinungsaustausch, wurde unser Projekt zu einer Oase für die Teilnehmerinnen, die vom harten, standardisiertem und hierarchischem System deutscher Prägung physisch oder psychisch überfordert waren - oder schlicht menschlich keinen Zugang dazu fanden. Die Wahrnehmungsfähigkeit für die Vielzahl,strenger' ifu-Projekte wurde bei den Teilnehmerinnen von,Busy Doing Nothing' eher wiederhergestellt oder unterstützt als relativiert. Das Projekt selbst wurde von den Teilnehmerinnen auch durchaus als Spitze eines Eisbergs verstanden, wodurch das Gefühl vermittelt wurde, daß es innerhalb der Arbeits-, Lehr- oder Geldwelt Strukturen gibt, die die Strenge, ja Unmenschlichkeit dieses Systems hinterfragen und mit kreativen, kommunikativen und menschlich-freundlichen Inhalten, Ansprüchen und Umgangsformen füllen. Die Vermittlung dieser Struktur und die folgende Erkenntnis - es gibt auch anderes - vermittelte unseren Teilnehmerinnen eine tiefgehende Ruhe, die sie mit sich nahmen und nun in sich tragen."

{1} Ich bedanke mich bei Parzival für seine überaus klugen Ratschläge.