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Juni 2002
Enno Stahl
für satt.org



Enno Stahl:
Vor und nach dem 11. September
Notiz über den Amerikanismus

Erstveröffentlichung in den:
Akten der Rheinischen Brigade
Nr. Zwei (Mai 2002)

Link:
Rheinische Brigade

Vor und nach dem 11. September
Notiz über den Amerikanismus



Überall im Medien-Verbund taucht sie auf, die Floskel “vor bzw. nach dem 11. September” - in der Politik ohnehin, doch auch sonst: ob im Sport (gewandelter Sinn der Winterolympiade in Salt Lake City), ob in der Kunst (die RAF-Bilder Gerhard Richters), immer wird suggeriert, die Welt sei jetzt ein für alle Male eine andere, der 11. September eine einzigartige geschichtliche Zäsur. Was vorher dies bedeutete, zeigt nun in tragischer Weise auf jenes.
Warum eigentlich? Warum sprach niemand von vor oder nach dem Golfkrieg, vor oder nach den ethnischen Säuberungen in Bosnien, vor oder nach dem Völkermord an den Tutsi? Die Sprecher der Verbundmedien versuchen uns damit zu vermitteln, der Anschlag des 11. Septembers sei ein nie gekannter Akt des Barbarismus, irgendwie viel menschen-feindlicher als alle vorangegangenen Massaker wo auch immer.
Und wieder die Frage: warum eigentlich? Deshalb, weil man gemerkt hat, dass es Terrorismus gibt? Dass es Leute gibt, die Amerika hassen? Weil die Wirt-schaft erst einmal zusammen gekracht ist? Die Verletzlichkeit der westlichen Welt? Was ist daran neu? Konjunkturkrise ist immer wieder, und wenn eine gesamte Volkswirtschaft von einigen wenigen Wett-Spekulanten in den Ruin gestürzt wird wie unlängst in Argentinien, kräht auch kein Hahn danach. Sind wir nicht verletzlich, immer, überall? Wer von einem besoffenem Autofahrer erfasst wird und daran verreckt, kommt auch nicht in Betracht.

Man vermutet fast, die Hervorgehobenheit einer amerikanischen Katastrophe ist wieder einmal Ergebnis dieser unschlagbaren Vertriebs- und Medienmaschinerie: sofort nach dem Tag X setzte es ein, das Merchandising der Leidensbotschaft, Anti-Terrorismus mit eschatologischer Perspektive.
Der Erfolg gibt ihr Recht. Tatsäch-lich ist nach diesem Attentat die Beziehung zu Amerika grundsätzlich anders geworden, die USA sind unkritisierbar geworden, die Reihen fest geschlossen, marschieren Europäer Seit’ an Seit’. Selbst der europäische Mensch stellt sich vier Stunden lang an, um ein Stars-’n-Stripes-Käppi in Salt Lake City zu erstehen, auch dies ein demonstrativer Akt der unverbrüchlichen Solidarität.
Dem Amerikaner dagegen, speziell seinem Verteidigungsminister Rrrrrrrumsfeld, ist der Europäer wie üblich mal wieder “zu schnell schlaff” geworden, so eine Art “Kamerad Schnürschuh”, gerade, wo es allmählich wieder richtig losgehen soll in Sachen Irak.

1 In seinem Essay “Antiamerikanismus”, in: Merkur, H. 1, 56. Jg. (Januar 2002).

Eine ganz überflüssige Befürchtung, denn die europäische Bevölkerung steht wie ein Mann hinter unserem großen Bruder. Selbst Leute, die bislang nicht unbedingt als Rechtsausleger verschrieen waren, entdecken ihr Herz für das Land der unbegrenzten Möglich-keiten, geradezu paradigmatisch das Schicksal des einstmals links-liberalen “Merkur”. Michael Rutschky etwa, beständiger Beiträger und Angehöriger des “inner circles”, der in Berlin zu regelmäßigen Lektüre-Treffen zusammenfindet, zeiht nurmehr allein die hiesigen Anti-Amerikanisten des Bösen 1, des “Kindischen”, ja, “Scharfsinnig-Blöden”, indem er rabulistisch deren alberne Argumente gegen die Großartigkeit der amerikanischen Nation aufrechnet. Nein, die Amerikaner sind keine Feiglinge, wie mancher linke Militarist hämisch insinuiere, sie beschäftigten sich ja nur deswegen so intensiv mit der Verfeinerung ihrer Waffentechnologie, um den Blutzoll ihrer eigenen Leute zu verringern. Wirklich menschlich. Und Stil haben sie auch, selbst Reagan hätte nicht einmal triumfiert, als die Sowjetunion zusammenbrach, nach all der Feindschaft, und wenn unsere Haderlinken angesichts “Coca Cola” und “McDonalds” den Zusammenbruch der “kulturellen Identität” beklagten, da sollten sie sich mal bei Rutschky erkundigen, dass dieser Begriff überhaupt erst von amerikanischen Sozialwissenschaftlern stamme und die gehen alle zu McDonalds und trinken Cola zum Burger. Kurz: nach dem Zusammenbruch des Sozialismus sei “die Anerkennung der USA als der am weitesten fortgeschrittenen Zivilisation unumgänglich”.
Derart niederargumentiert, möchte ich ganz schüchtern aufzeigen und erneut darauf hinwei-sen, dass dieser Erste unter uns Zivilisierten angesichts seiner beachtlichen Hinrichtungsquote keine Chance auf eine Aufnahme in die EU hätte, dass die USA von einem christlichen Fundamentalismus übelster Spielarten durchseucht ist, der kaum glauben lässt, in der dortigen Hinterwäldlereien sähe es in Sachen Kultur und Aufklärung irgendwie anders aus als im dunkelsten Afghanistan - in beide Gegenden der Welt brächten mich keine 10 Pferde.

Gerade bei den USA muss man die Ambivalenzen sehen, weder Verteufelung noch Liturgie, sondern Analyse - natürlich ist nicht der einzelne Amerikaner verantwortlich für die Politik seiner Oberen, aber wer behauptet so was heute schon. Allein, das geringste Nicht-Einverständnis mit der US-Diplomatie, das Ausscheren aus der großen Solidargemeinschaft West, ist Grund genug in den islamistischen Löwenpfuhl geworfen zu werden, denn da gehört man hin. Jedenfalls nach dem 11. September.

Nachtrag: Die folgenden Ausgabe der Monatsschrift lassen keinen Zweifel daran, dass es sich keinesfalls um einen momentanen Aussetzer handelt. Der offen propagierte Anti-Islamismus, dem in jeder Nummer seit dem 11. September in der ein oder anderen Form gehuldigt wird, brachte gar den “Kölner Stadt-Anzeiger” in Rage.
Mariam Lau, ebenfalls häufig im “Merkur” vertreten, verblüfft im Mai-Heft 2002 mit intimer Kenntnis der verschiedenen Strömungen im amerikanischen Konservativismus, die sie mit unverblümter Sympathie beschreibt. Voll korrekte, aufgeklärte, ex-linke Neo-Konservative hätten nämlich inzwischen den Sieg davon getragen: man begrüße interethnische Heiraten, verurteile die Beseitigung “unpopulärer” Bücher aus den Bibliotheken, gehe in Gruppen zum Bowling, besuche wieder öfter die Nachbarn zum Eierkuchenessen, und natürlich sind sie alle für den Krieg.
Wahrscheinlich wäre das ein tolles Vorbild für die FDP, die kann Mariam Lau ja dann wählen. Mit seiner 3000er-Auflage ist der Merkur nicht gerade ein Sprachrohr der öffentlichen Meinung, aber intellektuelle Tendenzen bildet die Zeitschrift schon immer gut ab. Vom Konservativismus neo-liberaler Prägung, der die sogenannte Berliner Republik zunehmend durchweht, wird noch zu reden sein.